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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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herzuhinken, und die eklatanten Standesunterschiede jener Zeit verschärften die Lage der Landbevölkerung noch. In einer Zeit, in der Wissenschaft und Fortschritt vorherrschend waren, mussten die Landbevölkerung und die armen Städter jeden Tag kämpfen, um sich Essen, Kleidung und Unterkunft leisten zu können. Der sich ausdehnende Handel und die Industrialisierung machten diesen Kampf sogar noch härter, weil einige Berufe und Handelszweige gänzlich ausstarben. Die Betroffenen konnten die Früchte der Ära nicht genießen, sondern waren mit Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert – und mit den Vagabunden, die ihre Dörfer und Städte heimsuchten und immer aufdringlicher und zahlreicher wurden. Morellet klagte, dass eine »Heerschar von Landstreichern« jeden Herbst herbeiströme und die Verbrechensrate steigere. »Die Gendarmen tun, was sie können, aber es reicht nicht. Sie haben die Nase voll.« Einmal fühlte Morellet sich so hilflos gegenüber den Vagabunden, dass er Marie-François Goron, damals noch Polizeichef der Pariser Sûreté, um ein paar Beamte als Unterstützung bat.
    Es gab jedoch noch schwerwiegendere Gründe für die primitive Denkweise, die Laurent-Martin kritisierte. Frankreich war damals im Wesentlichen noch eine Nation von Bauern, kaum eine Generation von mittelalterlichen Ängsten und abergläubischen Vorstellungen entfernt. Die Menschen lebten in einer Welt voller Geister, in der reale und imaginäre Ängste zum Alltag gehörten. Es war daher nicht ungewöhnlich, dass ein Dörfler glaubte, sein Vieh oder seine Felder seien verwünscht worden. Zahlreiche Studien belegten damals, dass der ländliche Aberglaube ein erschreckendes Ausmaß annahm. Im Jahr 1892 stellte beispielsweise eine landwirtschaftliche Kommission erstaunt fest, dass Bauern im Südwesten des Landes keine Bienen züchteten, weil sie glaubten, Bienenkörbe brächten Unglück, und dass sie Farn über ihren Türen befestigten, um den bösen Blick abzuwehren. Die Regierung versuchte, diesen Aberglauben zu bekämpfen, und gab Schulbücher heraus, in denen Kinder ermahnt wurden, nicht alles zu glauben: »Glaub nicht an Hexen. Glaub nicht an Geister, Gespenster und Phantome … Glaub nicht, dass man Unfälle mit … Amuletten, Talismanen oder Fetischen verhindern kann.«
    In dieser Atmosphäre der Furcht und des Aberglaubens waren Dorfbewohner leicht davon zu überzeugen, dass einer von ihnen verflucht war oder sie verfluchen wollte. Es war auch beruhigend, einen Verdächtigen zu haben, selbst wenn er der Falsche war. Das war immer noch besser, als darüber nachdenken zu müssen, welche unsichtbaren bösen Kräfte womöglich auf weitere Opfer lauerten.
    Jahre später, als der Fall Massot-Pellet bereits aufgeklärt war, interviewte ein Reporter der Dépêche de Toulouse Bannier. Der Journalist Albert Sarraut, der später in die Politik ging und Premierminister wurde, war entsetzt zu erfahren, dass die Bevölkerung den Mann immer noch quälte.
    In der Naivität seines ungerechtfertigten Martyriums glaubte [Bannier], die Gemeinschaft werde ihn irgendwie entschädigen, wenn seine Unschuld ans Licht komme, zumindest für die Schäden, die er erlitten hat.
    Hätte ich ihm raten sollen, diese Illusion aufzugeben? Hätte ich ihm sagen sollen, dass es in jeder Gesellschaft jedes Zeitalters ein fatales Gesetz gibt, wonach die Opfer des Irrtums und des Hasses ihrer Mitbürger … nicht auf Entschädigung zählen können? Hätte ich diesem Mann, dessen Herz durch das allerschlimmste Unrecht gebrochen war, sagen sollen, dass er froh sein solle, öffentlich für unschuldig erklärt worden zu sein, und dass er kein Recht habe, mehr von uns zu verlangen?
    Ich traute mich nicht.
    Nach dem Mord an Pierre Massot-Pellet tauchte Vacher eine Weile unter. Als es kalt wurde, wanderte er in die Bretagne ins Winterquartier der Vagabunden. Unterwegs machte er sich eine Mütze aus weißem Hasenfell, die eines seiner Markenzeichen wurde – der weiße Pelz symbolisierte seiner Aussage nach Reinheit. Er trug einen Knüppel bei sich, in den er die Initialen M, J, L, B und G eingekerbt hatte (die Ermittler fanden nie heraus, was die Buchstaben bedeuteten, aber sie nahmen an, dass L B für Louise Barant stand). Im Februar 1896 tauchte Vacher bei einem Bauernhof in der Nähe von Le Mans wieder auf. Eines späten Abends hörte eine Frau in ihrem Gewächshaus ein Geräusch. Sie ging hinaus, sah Vacher und lief sofort zurück zur Tür. Doch bevor sie die Tür

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