Der Wandermoerder
vor Studenten: »Man muss zweifeln können.«
Dennoch war Lacassagne wie viele Kollegen von der Figur fasziniert. Er besprach sogar zwei Holmes-Geschichten in seiner Zeitschrift und betreute eine Dissertation eines seiner Studenten, der Holmes’ Methoden mit denen echter Forensiker verglich. Dieser Student, Jean-Henri Bercher, nannte Holmes »einen veritablen Robinson Crusoe der Gerichtsmedizin«, weil er allein erreichte, was normalerweise eines ganzen Teams von medizinischen Experten bedurft hätte. Seiner Meinung nach hatten Holmes und Lacassagne einiges gemeinsam: Sie legten Wert auf sorgfältiges Beobachten, glaubten, dass man jeden Fall logisch und planvoll angehen müsse, waren davon überzeugt, dass selbst winzige Spuren zur Lösung eines Falls beitragen konnten, und es war ihnen wichtig, einen unberührten Tatort vorzufinden. In einer Geschichte rügt Holmes einen Beamten, der seinen Männern erlaubt hatte, über den Schauplatz eines Mordes zu trampeln: »Selbst eine Büffelherde hätte keinen größeren Schaden anrichten können.« Wie reale Ermittler hielt Holmes Fußspuren für aussagekräftig und benutzte Gips, um Abdrücke anzufertigen. »Kein anderer Zweig der Kriminalistik ist so wichtig und wird derart vernachlässigt wie die Kunst, Fußspuren zu lesen«, sagte Holmes. »Zum Glück habe ich immer großen Wert darauf gelegt.«
Manchmal vertraten Holmes und Lacassagne überraschend ähnliche Auffassungen.
Holmes (zitiert von Bercher): »Es ist ein großer Irrtum, sich für eine Theorie zu erwärmen, ohne alle notwendigen Fakten gesammelt zu haben. Das kann zu falschen Schlussfolgerungen führen.« Lacassagne: »Vermeiden Sie voreilige Theorien, und verzichten Sie auf Höhenflüge der Fantasie.«
Dennoch waren die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten. Holmes schloss beispielsweise aus der Länge der Schritte auf die Größe eines Verdächtigen. Forensiker wussten aber, dass die Schrittlänge variierte, je nachdem, wie schnell eine Person ging und in welchem emotionalen Zustand sie sich befand. Holmes konnte ein einzelnes Objekt einer Person in die Hand nehmen – etwa eine Uhr – und darauf eine ganze Lebensgeschichte aufbauen. Echte Forensiker würden Schlussfolgerungen jedoch niemals auf ein einziges Beweisstück stützen. Sie sammelten und analysierten jedes Stückchen Material, das sie fanden, bewahrten es auf und formulierten ihre Schlüsse in der nüchternen Sprache der Wissenschaft. Holmes kannte den Aschegehalt jeder beliebten Zigarre oder Zigarette – im wahren Leben ein nutzloses Wissen. Mit der Medizin ging er recht unbekümmert um, und seine anatomischen Kenntnisse bezeichnete Watson als »korrekt, aber unsystematisch«.
Bercher fand es besonders ärgerlich, dass Holmes nie Autopsien vornahm, die ja der Grundpfeiler der Rechtsmedizin waren. Zum Beispiel gelangt Holmes in Eine Studie in Scharlachrot nach einer Untersuchung, die nur ein paar Minuten dauert, zu der Schlussfolgerung, dass das Opfer vergiftet wurde, wahrscheinlich mit Strychnin. »Holmes trifft am Tatort ein, macht ein paar vorbereitende Untersuchungen, um die Verhältnisse, die Gewohnheiten des Opfers … zu erkunden, und sucht dann nach verdächtigen Gegenständen oder Giftspuren«, schrieb Bercher.
Dann geht er zur Leiche und fertigt eine Zeichnung an. Diese enthält die Position der Leiche, deren Kleidung, Flecken, Anzeichen für Schläge und Wunden … Er bewegt die Arme und Beine, prüft das Ausmaß der Leichenstarre und nennt den ungefähren Todeszeitpunkt. Danach nähert er sich den Nasenlöchern des Opfers und erkennt sofort einen typischen Geruch.
Der Vorhang fällt, der erste Akt ist zu Ende. Die Leiche wird weggebracht, eine Autopsie ist unnötig!
Es ist keine Rede davon, Leichenflecken zu inspizieren, um die Position des Körpers zum Zeitpunkt des Todes zu bestimmen, der von erheblicher Bedeutung ist. Wen kümmert das Ausmaß der Verwesung? Ein Sherlock Holmes braucht alle diese Informationen nicht, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen! Er hat es auch nicht nötig, sich mit einer Autopsie abzuplagen und sich die Hände an Wunden schmutzig zu machen, die im Brust- und Bauchraum vorhanden sein könnten. Und warum sollte er eine Eingeweide- oder Blutprobe entnehmen, um Spuren eines Giftes zu entdecken?
Wie der Zufall es wollte, untersuchte Lacassagne im gleichen Jahr, als Eine Studie in Scharlachrot erschien, ebenfalls einen plötzlichen Tod, der, wie sich herausstellte, auf Strychnin
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