Der Wandermoerder
Wenn der Untersuchungsrichter genügend Beweise für einen Prozess fand, schrieb er einen Bericht, den er an den Staatsanwalt oder an den Generalstaatsanwalt (procureur de la république) weiterleitete, der dann Anklage erhob. Ein Untersuchungsrichter konnte seinen Kollegen in anderen Bezirken Fragebögen schicken und sie bitten, eine Person in seinem Auftrag zu vernehmen. Man erwartete von den Untersuchungsrichtern, dass sie über die Vorgänge in anderen Bezirken auf dem Laufenden waren. Arbeitsüberlastung und manchmal auch beruflicher Neid hielten sie jedoch oft davon ab. Allzu oft dachte ein Richter nicht über seinen Bereich hinaus.
Der Journalist Laurent-Marti, der Vachers Spur nachverfolgte, wunderte sich darüber, dass ein Mann »in unserer Zeit, mitten in Frankreich« so viele Verbrechen begehen konnte, »ohne dass auch nur eine Behörde eine andere informierte, und dass er nicht früher ertappt wurde«. Dafür machte er die Untersuchungsrichter verantwortlich:
Jeder arbeitet für sich. Es gibt keine Korrespondenz zwischen ihnen … Wenn in einer Gemeinde ein Verbrechen begangen wird, braucht der Täter nur in den Nachbarbezirk zu fliehen, wo die Polizei völlig ahnungslos ist. Bis die Ermittler die Behörden in den benachbarten Bezirken verständigt haben, ist er längst weg.
Das beschrieb Vachers Taktik treffend. Er mordete in einem Bezirk und floh dann in einen anderen. Aber es gab noch andere Gründe dafür, dass die Polizei ihn übersah und immer wieder die Falschen festnahm: Sie hatte zu wenig Personal, ihre Rechte waren begrenzt, und ihre Untersuchungsmethoden waren unzulänglich. Während Lacassagne und einige seiner Kollegen Wert auf moderne Ermittlungsmethoden legten, ging in vielen Polizeirevieren alles seinen gewohnten Gang. Seit Eugène-François Vidocq 1812 die Pariser Sûreté gegründet hatte, die erste Kriminalpolizei der Welt, verließ sich die französische Polizei auf Zwangsmaßnahmen, um Fälle zu lösen: Sie befragte Informanten, setzte Verdächtige unter Druck (auch mit Daumenschrauben) und benutzte verdeckte Ermittler als agents provocateurs . Aber diese Methoden, die selbst in den Straßen von Paris als fragwürdig galten, erwiesen sich in den Dörfern oft als gänzlich ungeeignet.
Vidocq, der erste berühmte Detektiv der Welt, war eigentlich ein Buch wert – und tatsächlich nahmen Honoré de Balzac und Victor Hugo ihn zum Vorbild für einige Charaktere. Als Dieb, Fälscher und legendärer Ausbrecher hatte Vidocq irgendwann begonnen, mit den Behörden zu kooperieren. Er betätigte sich im Gefängnis als Spitzel und verkürzte dadurch seine Freiheitsstrafe. Nach seiner Entlassung erkannte er, dass er sein Wissen über die Welt des Verbrechens und seine Freunde unter den Kriminellen zu Geld machen konnte. Daher wurde er zum agent particulier (Spezialagenten) der Pariser Polizeipräfektur. Schließlich gründete er sein eigenes bureau de sûreté (Sicherheitsbüro). Er und sein Team aus ehemaligen Häftlingen verkleideten sich, gingen in die Stammkneipen der Kriminellen, erschlichen sich ihr Vertrauen, entlockten ihnen Informationen und verrieten sie oder ihre Kumpane dann an die Polizei. Manchmal setzten sie auch einen indicateur ein, einen ehemaligen Straftäter, der an seinen Hut tippte, wenn er an einem ihm bekannten Verdächtigen vorbeiging, sodass Polizisten, die ihm folgten, zugreifen konnten. Oft heuerten sie auch mouchards (Spitzel) und moutons (Schafe) an, die ihnen Informationen aus dem Gefängnis zuspielten. Als Vidocq 1829 seine Memoiren veröffentlichte, wurde er zum Vorbild für viele berühmte Detektive.
Vidocqs Methoden wurden im ganzen Land und in vielen anderen Ländern zum Standard. Alan Pinkerton, der das erste amerikanische Detektivbüro gründete, nannte sich »Vidocq des Westens«. Doch so effektiv Vidocqs Methoden damals auch sein mochten, ihre Nachteile wurden bald offenkundig. Er konnte zwar zahlreiche Festnahmen erreichen, doch viele davon erwiesen sich später als ungerechtfertigt oder waren durch strafbare Handlungen provoziert worden. Verdächtige, die unter Druck gesetzt worden waren, erzählten der Polizei bisweilen, was diese hören wollte, anstatt die Wahrheit zu sagen.
Wenn aber diese Methoden schon in Paris zweifelhaft waren, so erwiesen sie sich auf dem Land als nahezu nutzlos. In vielen Teilen des Landes gab es erst seit Kurzem Justizbehörden, und ihre Repräsentanten galten als Außenseiter. Manche Anordnungen, etwa das Verbot illegaler
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