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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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medizinischen Fakultät und diskutierten über die Ursachen der Kriminalität und die Möglichkeiten der Verbrechensvorbeugung, Veranstaltungsthemen waren dabei unter anderem: »Haben Kriminelle bestimmte anatomische Merkmale?«, »Die Kindheit der Verbrecher« und »Ursachen von Seriendelikten und ihre Verhinderung«.
    Die Experten besuchten das Irrenhaus Sainte-Anne, in dem der Chefarzt Valentin Magnan sie einigen seiner Patienten vorstellte, und die Polizeipräfektur, wo Alphonse Bertillon ihnen zeigte, wie er Widerholungstäter identifizierte. Sie nahmen aber auch an Festen teil, und das prächtigste war ein Empfang, den Prinz Roland Bonaparte, der Großneffe Napoleons, in seinem Hotel gab. Roland, ein begeisterter Anhänger der Wissenschaften und der Anthropologie, gab sich große Mühe, seine Gäste zu unterhalten. Er überredete Thomas Edison, der auch gerade in Paris weilte, sie mit Musik aus dem Phonographen, seiner wunderbaren Erfindung, zu erfreuen und in Staunen zu versetzen.
    Roland sammelte alle möglichen Kulturgüter und wissenschaftlich bedeutsamen Objekte. Einer seiner Schätze war der Schädel von Charlotte Corday, der Mörderin Jean-Paul Marats. Sie war in den 96 Jahren nach ihrer Hinrichtung eine Art Kultfigur geworden – kleiner und zarter im Mythos als im wahren Leben, eloquenter, tapferer in ihren letzten Minuten und fast eine Heilige in ihrer Bereitschaft, ihren Henkern zu verzeihen. Für Wissenschaftler, die das Verbrechen erforschten, muss das Phänomen faszinierend gewesen sein, dass ein solcher »Engel« zu einer Mörderin werden konnte. Darum waren sie auch so begeistert, als der Prinz ihnen erlaubte, die Konturen dieses einzigartigen historischen Schädels zu studieren.
    Das stellte ihr kollegiales Verhältnis allerdings auf eine schwere Probe. Nachdem Cesare Lombroso den Schädel untersucht hatte, erklärte er, dass er alle physischen Kennzeichen einer »geborenen Verbrecherin« besitze. Seit mehr als einem Dutzend Jahren vertrat Lombroso die Auffassung, dass bestimmte Menschen biologisch dazu bestimmt seien, Kriminelle zu werden, und dass er sie anhand körperlicher Merkmale identifizieren könne. Diese »Stigmata«, wie er sie nannte, waren nur die oberflächlichen Indikatoren eines primitiven Gehirns, das seinen Besitzer für impulsive Brutalität prädestinierte. Als er nun Cordays Schädel begutachtete, erkannte er rasch einige solcher Stigmata: die allgemeine Asymmetrie, das einigermaßen männliche Erscheinungsbild, die breite, flache Schädeldecke und vor allem eine Mulde im Hinterkopf, die er »Okzipitalgrübchen« nannte. Dies war seiner Meinung nach zweifellos der Schädel eines Menschen, der zum Morden bestimmt war.
    Dr. Paul Topinard, der Präsident der französischen anthropologischen Gesellschaft, widersprach ihm jedoch entschieden. Er fand die flache Stelle an dem Schädel und die Mulde am Hinterkopf nicht ungewöhnlich und nannte den Schädel »regelmäßig, harmonisch mit den korrekten und zarten Kurven weiblicher Schädel«. Was die allgemeine Symmetrie betreffe, so wiesen fast alle menschlichen Schädel »einen Unterschied an der einen oder anderen Seite auf«. Der Wiener Anatom Moritz Benedikt räumte zwar ein, dass an dem Schädel geringe Anomalien zu erkennen seien, jedoch keine, die mit Charakterzügen zusammenhingen. Das Okzipitalgrübchen sei ein ebenso gutes Indiz für Hämorrhoiden wie für eine Neigung zum Verbrechen.
    Lombrosos kriminalanthropologische Theorie hatte zahlreiche Anhänger gewonnen, seit er sie 1876 vorgestellt hatte. Aber er hatte auch Gegner, die vor allem in diesem Sommer großen Zulauf bekamen. Angeführt von Lacassagne, behauptete die »französische Schule«, auch »Lyoner Schule« genannt, dass Kriminalität nicht auf Erbanlagen zurückzuführen sei, sondern auf das soziale Umfeld. Dieser Streit über »Veranlagung oder Umwelt« war eine Folge der Evolutionstheorie und der neuen Erkenntnisse über die Vererbung. Er dehnte sich bald auf nahezu alle anderen Merkmale des Menschen aus, von der Intelligenz bis zu den Geschlechtsunterschieden. Die Debatte brachte Lombroso und Lacassagne jahrzehntelang gegeneinander auf und wurde bei allen wissenschaftlichen Konferenzen und nach jedem spektakulären Verbrechen ausgetragen. Sie warf Fragen nach der Natur des Menschen auf, die bis heute nicht beantwortet sind.
    Cesare Lombroso hatte viel mit Alexandre Lacassagne gemeinsam. Seine Familie gehörte ebenfalls der Mittelschicht an, und er hatte

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