Der Wandermoerder
Ernten oder der Wilderei, wurden schlichtweg ignoriert. Die Bauern hatten ihre eigenen Methoden, mit Rechtsbrechern umzugehen, sei es mit individueller oder kollektiver Gewalt oder mit ständigen Schikanen, wie Grenier, Bannier und andere sie erdulden mussten. Für sie war das Gesetz etwas, das man missachtete oder so manipulierte, dass man sich an anderen rächen konnte.
Und Vacher profitierte von all diesen Unzulänglichkeiten. Nur selten erkannte ein Untersuchungsrichter ein Muster, und kaum einer wollte sich wohl vorstellen, dass ein einziger Mann so viele Verbrechen beging.
Sexualmorde waren natürlich nicht unbekannt. Bevor Vacher mit seinen Verbrechen begann, hatte Jack the Ripper in London fünf Prostituierte ermordet und verstümmelt. Die Morde waren zwar entsetzlich, aber die Normalbürger beruhigten sich damit, dass die Opfer einen anrüchigen Beruf ausgeübt und alle im gleichen kleinen Viertel gewohnt hatten. Auch in Frankreich hatte es Ungeheuer wie etwa Louis Menesclou gegeben, der 1880 ein vierjähriges Mädchen in seine Pariser Wohnung gelockt, vergewaltigt und erwürgt hatte. Der Fall war deshalb so bekannt geworden, weil die Polizei genau in dem Augenblick hereinstürmte, als der Mörder die Leiche des kleinen Mädchens verbrennen wollte – einer ihrer abgetrennten Arme ragte aus seiner Tasche heraus. Aber das war ein Einzelfall. Ebenso wie die Tat von Pierre Rivière, der im Jahr 1835 seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder in ihrer Hütte in der Normandie mit einem Rebmesser erstochen hatte. Doch nichts kam an die Verbrechen Vachers heran. Etwas Vergleichbares hatte es nur im Jahr 1440 gegeben, als der adlige Gilles de Rais, ein Waffengefährte der Jungfrau von Orleans, wegen Vergewaltigung und Ermordung mehrerer hundert Kinder exkommuniziert und gehängt wurde.
Das Ausmaß und die Art seiner Verbrechen erwiesen sich für Vacher als Vorteil. Als man ihn in Baugé festnahm, hatte er schon mindestens sieben Menschen getötet und viele weitere verletzt, aber in Städten, die fast 1000 Kilometer voneinander entfernt waren. Als ein Untersuchungsrichter in Dijon namens Louis-Albert Fonfrède begann, eine Akte über die Morde anzulegen, glaubte er, dass es eine Epidemie von Verbrechen gebe (später sprach man von »Nachahmungstätern«). Damals wurde Pasteurs Keimtheorie auf alles angewandt, so entstand auch die Idee, dass Kriminalität ansteckend sein könnte. Doch die anderen Untersuchungsrichter beschäftigten sich jeweils nur mit dem einen Mord in ihrem Bezirk.
Vacher hielt seine Gefängnisstrafe für ein weiteres Zeichen dafür, dass der Himmel ihm gewogen war. Nach seiner Entlassung am 6. April 1896 deutete er in einem Brief an einen Freund an, er erfülle irgendwie eine schicksalhafte Pflicht. »Mein Programm ist immer gleich. Seit meine Familie mich verstoßen hat, diene ich meinem einzigen Herrn und lasse mich vom Zufall leiten.«
Da er überzeugt war, dass er unter höherem Schutz stand, beschloss er, eine Pilgerreise an einen Ort zu unternehmen, an dem er der Muttergottes dafür danken konnte, dass sie auf seinem seltsamen und gefährlichen Weg auf ihn aufgepasst hatte. Es sollte eine lange Reise werden, Hunderte von Kilometern lang, bis an die Südgrenze Frankreichs. Und weitere Leichen sollten seinen Weg säumen, doch Vacher wusste, dass der Segen des Himmels auf ihn wartete. Also brach er nach Lourdes auf.
Zwölf
Zum Verbrecher geboren
Die Weltausstellung in Paris im Jahr 1889 galt als international renommierte Bühne für die moderne Technik, Wissenschaft und Kultur, aber sie war auch ein Treffpunkt für die Gelehrten und Intellektuellen der Welt. Von Mai bis November besuchten mehr als 30 Millionen Menschen die Ausstellung, und es gab 120 wissenschaftliche Konferenzen, darunter die internationalen Kongresse der Zoologen, Dermatologen, Syphilis-Experten und Hypnosetherapeuten (unter Letzteren befand sich auch Sigmund Freud).
Eine dieser Veranstaltungen war der zweite internationale Kongress für Kriminalanthropologie (der erste hatte 1885 in Rom getagt). Dieser Forschungszweig hatte sich gebildet, um wichtige Fragen zu beantworten wie etwa: Warum leben die meisten Menschen ein normales, friedfertiges Leben, während einige wenige gewalttätig werden? Auf welche Ursachen geht die Neigung zum Verbrechen zurück? Und was können die Behörden tun, um sie zu unterdrücken?
Vom 10. bis zum 17. August versammelten sich Vertreter aus 22 Ländern im Amphitheater der
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