Der Wandermoerder
und ein großes Gesicht, Segelohren, lange Arme und dicke Augenbrauen, die sich oft in der Mitte trafen. Diese Züge wiesen auf eine evolutionäre Vergangenheit, die in bestimmten unglücklichen Individuen wieder zum Vorschein kam.
Im Jahr 1876 veröffentlichte Lombroso ein Buch, in dem er seine Forschungen und Hypothesen vorstellte: L’uomo delinquente (dt. Ausg.: Der Verbrecher ). Es hatte zunächst 250 Seiten, wurde aber in den folgenden Jahren immer dicker. Die fünfte Auflage bestand aus drei Bänden mit insgesamt fast 2000 Seiten und war mit Fotos und Maßtabellen reich illustriert. Lombroso war unermüdlich, er schrieb über 30 Bücher und 1000 Artikel über die biologischen Wurzeln der Kriminalität. 1893 veröffentlichte er La donna delinquente (dt. Ausg.: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte ), in dem er die atavistischen Triebe beschrieb, von denen Frauen und Prostituierte beherrscht würden. (Im Allgemeinen betrachtete er Frauen als primitivere Versionen der Männer mit kleinerem Schädel und »kindlichen« Emotionen.) Später schrieb er ein Buch mit dem Titel Genio e follia (dt. Ausg.: Genie und Irrsinn ). Zwischendurch versammelte er eine Gruppe brillanter junger Wissenschaftler um sich, darunter Enrico Ferri und Raffaele Garofalo. Dieser Zirkel wurde als »italienische Schule« bekannt und brachte ab 1880 die Zeitschrift Archivio di psichiatria ed antropologia criminale (Archive der Psychiatrie und Kriminalanthropologie) heraus.
Lombroso hörte nie auf, zu messen, Daten zu sammeln und zu obduzieren, und im Laufe der Jahre entdeckte er weitere vermeintliche Ursachen der Kriminalität. Während er ursprünglich Verbrecher als speziellen Typus mit bestimmten Erbanlagen gesehen hatte, teilte er sie später in mehrere Kategorien ein. Einige waren weniger gefährlich als andere. Ein Typ, den er criminaloid nannte, besaß keines der Stigmata des geborenen Verbrechers, beging jedoch später im Leben weniger schwere Verbrechen. In eine andere Gruppe gehörten Verbrecher aus Leidenschaft: anständige Bürger, die impulsiv ein Verbrechen begingen, vielleicht an einem untreuen Ehegatten, und es sofort bereuten. Eine weitere Gruppe, die er als mattoid bezeichnete, umfasste politische Verbrecher wie Anarchisten und Attentäter, die geistig instabil, aber nicht atavistisch waren. In diese Kategorie ordnete er auch Charles Guiteau ein, der Präsident James Garfield ermordet hatte. Wenn man von den weniger gefährlichen Gruppen absah, waren etwa 40 Prozent der Gesetzesbrecher geborene Kriminelle. Dazu gehörten nach Lombrosos Meinung auch alle Epileptiker.
Die Identifizierung geborener Verbrecher konnte seiner Ansicht nach dazu beitragen, das Problem der zunehmenden Kriminalität zu lösen, da man sich auf die Person und nicht nur auf das Verbrechen konzentrieren konnte. Lombroso trat oft als Gutachter auf und entlarvte die Stigmata von Angeklagten. Einmal bat ihn ein Gericht in Süditalien um Hilfe, das herausfinden musste, welcher von zwei Brüdern seine Stiefmutter ermordet hatte. Lombroso nannte die beiden M. und F. Nachdem er sie untersucht hatte, erklärte er, dass M. den Verbrechertyp eindeutiger repräsentiere, da er gewaltige Kiefer, geschwollene Nebenhöhlen, extrem ausgeprägte Wangenknochen, eine dünne Oberlippe und große Schneidezähne habe. Außerdem sei er Linkshänder. M. wurde verurteilt.
Für Lombroso war es wichtig, dass die Gesellschaft seine Theorie für die Prävention nutzen konnte. Er schlug vor, Kinder mit atavistischen Neigungen umzuerziehen und Gefängnisstrafen auf die Täter zuzuschneiden. Die übliche Praxis, Strafen allein nach der Schwere der Tat zu bemessen, lehnte er ab. Stattdessen empfahl er, sich beim Urteil auf den Täter zu konzentrieren, was den Richtern natürlich große Freiheiten gegeben hätte. Wer kein geborener Verbrecher sei, könne eine mildere Strafe bekommen oder von der Gemeinschaft resozialisiert werden. Geisteskranke Täter sollten in Nervenheilanstalten eingewiesen werden. Wer aber von Natur aus kriminell sei, müsse strenger bestraft und nach der Entlassung überwacht werden. Die schlimmsten Verbrecher solle man hinrichten, lebenslang einsperren oder ins Exil schicken.
Es war kein Wunder, dass Lombrosos Ansichten internationale Unterstützung fanden, denn er lebte in einer Ära, die von Zahlen besessen und von der dunklen Seite des Menschen fasziniert war. Fast über Nacht wurde die »Kriminalanthropologie« zu einer angesehenen Wissenschaft. Sie
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