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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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schon in jungen Jahren Medizin studiert und an berühmten Universitäten – Pavia, Padua und Genua – beachtliche Dissertationen geschrieben. Wie Lacassagne hatte er mehrere Jahre in der Armee gedient und in dieser Zeit die Menschen in seiner Umgebung studiert. Er hatte Tausende von Soldaten vermessen, um die körperlichen Unterschiede zwischen den Menschen der verschiedenen italienischen Regionen zu ermitteln. Außerdem leitete er eine Studie über die Tätowierungen der Soldaten, die er mit kriminellem Verhalten in Verbindung brachte. Später vermaß und untersuchte er in Pavia Patienten in Irrenhäusern, und danach studierte er als Inhaber des Lehrstuhls für Gerichtsmedizin und öffentliche Hygiene an der Universität Turin Gefängnisinsassen.
    Im Gegensatz zum stattlichen und herzlichen Lacassagne war Lombroso ein kleiner, bärtiger, bescheidener und unauffälliger Mann. »Er hat ein sanftes, anziehendes Gesicht«, schrieb Arthur Griffiths, ein britischer Kollege, »runde Apfelbäckchen wie ein Kind und stille Augen hinter seiner Brille.« Mit seinem französischen Gegenspieler teilte er jedoch eine intellektuelle Selbstsicherheit. Seine Augen blitzten »strahlend, wenn er sich im Kampf für seine Prinzipien erhitzt«.
    Einige neue Ideen, die die Wissenschaft beeinflussten, prägten auch Lombrosos Denken. In den 1850er-Jahren gründete Dr. Paul Broca in Paris die erste anthropologische Gesellschaft. Die Anthropologie, ein neuer Zweig der Naturwissenschaft, erklärte und kategorisierte die Kultur des Menschen mithilfe umfassender Messungen und Quantifizierungen. Brocas Arbeit ermunterte viele seiner Kollegen, den menschlichen Körper zu vermessen. Außerdem begründete er, nachdem er Patienten mit Aphasie obduziert hatte, die Theorie der zerebralen Lokalisation, nach der unterschiedliche Gehirnteile spezifische Funktionen haben. 11 In dieser Zeit gab es auch einige, unter ihnen Darwins Vetter Sir Francis Galton, die auf die negativen Auswirkungen der Evolutionstheorie hinwiesen: Wenn die menschliche Spezies sich aus einer primitiven Form entwickelt hatte, schlummerte diese primitive Saat in allen modernen Menschen und konnte in dafür empfänglichen Individuen keimen. Schließlich legte Dr. Augustin Morel, der französische Psychiater, der die Demenz entdeckte, seine Degenerationstheorie vor, die besagte, dass schlechte Züge wie Einfalt sich bisweilen von einer Generation zur nächsten verschlimmern konnten, sodass bestimmte Familien nach und nach immer debiler würden.
    Dieses Sammelsurium neuer Ideen und Lombrosos eigene Beobachtungen führten dazu, dass er Verbrecher nicht als Individuen mit freiem Willen betrachtete, sondern als Produkte biologischer und evolutionärer Kräfte. Er vermutete Zusammenhänge zwischen der Gehirnstruktur und dem kriminellen Verhalten. Als er im Dezember 1871 die Leiche des berüchtigten Räubers Giuseppe Villella obduzierte, machte er eine Beobachtung, die sein Denken für immer verändern sollte: Er fand eine kleine Mulde an der Schädelbasis und unter ihr einen vergrößerten Bereich des Rückenmarks. Dieses Merkmal sei bei Menschen zwar abnorm, erklärte er, komme bei niederen Affen, Nagetieren, Vögeln und einigen »primitiven Rassen in Bolivien und Peru« jedoch häufig vor. Er bezeichnete diesen Moment als den aufregendsten in seiner jungen Laufbahn: »Angesichts dieses Schädels hatte ich plötzlich das Gefühl, das Problem des Kriminellen zu sehen, hell wie eine weite Ebene unter einem flammenden Himmel: Er war ein atavistisches Wesen, in dessen Person die wilden Instinkte des primitiven Menschen und der niederen Tiere wiederauflebten.«
    Er nannte diese Deformation »mediane Okzipitalfossa« ( fossa bedeutet »Grube«) und entdeckte diese auch in weiteren Missetätern. Für ihn war sie das »Totem, der Fetisch der Kriminalanthropologie«, weil sie die ererbte, biologische Natur des verbrecherischen Dranges symbolisierte. Weil das Merkmal meist bei primitiven Tieren auftauchte, betrachtete er Menschen, die es aufwiesen, als evolutionäre Rückfälle, die hilflos im Griff »atavistischer« Verhaltensweisen zappelten. Dazu gehörten schwache Triebsteuerung, fehlendes Einfühlungsvermögen, Brutalität und Selbstsucht. »Die theoretische Ethik gleitet über diese kranken Gehirne hinweg wie Öl über Marmor, ohne einzudringen«, schrieb er. Nach und nach entdeckte er weitere primitive »Stigmata«, zum Beispiel einen kleinen Schädel, eine tiefe Stirn, einen großen Kiefer

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