Der Wandermoerder
lieferte nicht nur die lang ersehnte Erklärung für das Verbrechen, sondern befriedigte auch den latenten Wunsch, Kriminelle als »die anderen« zu betrachten. 12 »Es ist wohlbekannt, dass Verbrecher selten ein schönes Gesicht haben«, schrieb Henry Havelock Ellis, der bekannte britische Arzt und Gesellschaftsreformer (später auch Eugeniker) in seinem Buch The Criminal , in dem er viele Thesen Lombrosos übernahm. »Das Vorurteil gegen die Hässlichen und Missgebildeten entbehrt nicht einer soliden Grundlage.« Er räumte zwar ein, dass auch normale Menschen einige Anomalien aufweisen konnten, aber für Degenerierte sei »nicht das bloße Vorhandensein solcher Anomalien« typisch, »sondern ihre ausgeprägtere Form und ihre Häufigkeit«.
Francis Galton, der den Begriff Eugenik prägte (und in Großbritannien das Fingerabdruckverfahren einführte), bewunderte Lombrosos Arbeit sehr und stellte ein Handbuch über Verbrecher zusammen. Darin sammelte er Fotos von Dutzenden von Kriminellen und ordnete sie nach Kategorien, zum Beispiel »Bankräuber« und »Taschendiebe«, damit man sie leicht identifizieren konnte. Zudem erfand er eine Maschine, die Fotomontagen anfertigen konnte. Diese Technik benutzte er, um aus allen Fotos von Missetätern, die er gesammelt hatte, eine Fotomontage des »Oberschurken« herzustellen, der zu vielen verschiedenen Verbrechen fähig sei. Das verzerrte Bild zeigte einen Mann mit dicken Augenbrauen – das Gesicht der Verderbtheit selbst.
In den Vereinigten Staaten waren die Experten besorgt über die steigende Verbrechensrate, und Rückfalltäter sorgten für eine weitere Anerkennung von Lombrosos Ideen. Da Amerika sich als klassenlose Gesellschaft verstand, war es praktisch, die negativen Auswirkungen des Goldenen Zeitalters mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse vertuschen zu können. Später griffen die Eugeniker diese Gedanken auf und forderten, geborenen Verbrechern die Ehe zu verbieten oder sie »einen sanften, schmerzlosen Tod« durch Kohlensäuregas sterben zu lassen, wie ein Strafrechtler es formulierte. Arthur MacDonald, ein amerikanischer Kriminologe, der sein Buch Criminology Lombroso widmete, drängte den Kongress und Präsident Roosevelt jahrelang, ein Labor einzurichten, um die »kriminellen, armen und mit Fehlern behafteten Klassen« im Sinne Lombrosos zu studieren. Er hoffte, dadurch geborene Verbrecher identifizieren und sie dann, wenn nötig, in Vorbeugehaft nehmen zu können. William T. Harris, der Bildungsbeauftragte, sprach jedoch von einer »teuflischen Methode, bedauernswerte Menschen zu behandeln«, und MacDonalds Vorschlag wurde entschieden abgelehnt.
Alphonse Bertillon, der mehr Kriminelle vermessen hatte als jeder andere, widersprach Lombroso. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass ein Mangel an Symmetrie im Gesicht oder die Größe der Augenhöhle oder die Form des Kiefers einen Menschen zum Bösewicht machen«, erklärte er gegenüber der Journalistin Ida Rarbell. »Ein bestimmtes Merkmal hindert ihn vielleicht daran, seine Pflicht zu erfüllen, und benachteiligt ihn daher im Lebenskampf. Dann wird er kriminell, weil er ganz unten ist.« Er meinte:
Lombroso würde zum Beispiel sagen: Da die meisten Verbrecher einen Fleck im Auge haben, sind Flecken im Auge ein Zeichen für eine Neigung zum Verbrechen. Das ist aber ganz falsch. Der Fleck ist ein Zeichen für einen Sehfehler, und ein Mensch, der schlecht sieht, ist ein schlechterer Arbeiter als einer, der gute, scharfe Augen hat. Er gerät daher beruflich ins Hintertreffen, verliert den Mut, kommt auf Abwege und wird kriminell. Der Fleck im Auge macht ihn also nicht zum Verbrecher, er verhindert nur, dass er die gleichen Chancen hat wie seine Kollegen. Das Gleiche gilt für andere sogenannte Zeichen für Kriminalität. Wir sollten mit anthropologischen Deduktionen sehr vorsichtig sein.
Der Fairness halber sollte erwähnt werden, dass Lombrosos Ansichten durchaus auch fortschrittliche Entwicklungen beförderten. Da er sich auf den Verbrecher und nicht nur auf das Verbrechen konzentrierte, ermutigte er andere Wissenschaftler, die Grundsätze der Kriminalpsychologie zu erforschen. Zudem drängte er die Politiker, über eine Gefängnisreform nachzudenken. Dennoch ist es erstaunlich, wie stark seine Ideen die Gesellschaft beeinflussten. Als der ungarische Philosoph Max Nordau die moderne Kunst und Kultur in seinem Buch Degeneration als Rückschritt verdammte, widmete er das Werk Lombroso. Und Schurken nach
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