Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
einfach das Wasser ab.«
»Jeden einzelnen Hahn?«, fragte Gaia.
»Selbst die Bewässerung für die Felder«, bestätigte Myrna.
Gaia versuchte sich die Panik vorzustellen, die das unter den Menschen von Wharfton verursacht haben musste. »Wie eine Belagerung mit vertauschten Rollen: Die Leute in der Stadt haben die davor in ihrer Gewalt, weil sie über das verfügen, was die anderen brauchen. Haben die Streikenden aufgegeben?«
»Es wurde noch komplizierter: Ganz Wharfton hat sich hinter die streikenden Mütter gestellt, und in der Enklave ging der harte Kurs des Protektors nach hinten los.« Myrna warf Leon einen knappen Blick zu. »Die Bewohner der Enklave sind ja nicht alle so kaltherzig, wie manche glauben. Ein paar der reichen, einflussreichen Familien haben ein Konsortium gegründet, um sich für die Belange der Menschen vor der Mauer einzusetzen. Es wurde zu einer humanitären Frage.«
»Na sicher«, sagte Leon trocken. »Wahrscheinlich genau die Familien, denen auch die Felder vor der Mauer gehören. Man will schließlich nicht seine ganze Ernte verlieren.«
»Haben sie es denn geschafft, den Protektor zu überzeugen?«, fragte Gaia.
»Nein«, sagte Myrna. »Aber er war gezwungen, zu verhandeln. Am dritten Tag der Belagerung stellte der Protektor zwei Bedingungen, unter denen er das Wasser wieder anstellen würde: Als Erstes wollte er, dass alle Bewohner Wharftons ihre DNS in einem Register erfassen ließen.«
Verwirrt versuchte Gaia sich zu erinnern, ob sie nicht schon mit Bruder Iris über diese Möglichkeit gesprochen hatte. Soweit sie sich entsann, hatte er das als nicht praktikabel verworfen.
»In Wharfton leben gut fünfzehntausend Menschen«, sagte sie.
»Sechzehntausendvierhundertzwölf, wenn du’s genau wissen willst«, erwiderte Myrna. »Der Protektor verlangte Speichelproben von jeder einzelnen Familie. Damit hatte er endlich ein komplettes Verzeichnis des gesamten Erbguts von Wharfton.«
»Was bringt ihm das denn?«
»Es ist zwar sicher ein Übermaß an Information, aber er plant gerne voraus«, sagte Leon. »Es passt zu ihm.«
Gaia verlagerte Maya auf ihrer Hüfte. »Was war die zweite Bedingung?«
»Dass Emily zu ihm in die Bastion kommt – als sein ständiger Gast. Sie durfte ihren Sohn wiederhaben, aber nur in der Enklave, unter seinem eigenen Dach.«
»Damit er sie in seiner Gewalt hat.« Die Absicht dahinter war Gaia sofort klar – es war praktisch dasselbe, was die letzte Matrarch mit ihr getan hatte, als sie nach Sylum kam. Sie hatte sie im Mutterhaus festgesetzt und es eine Zeit der Besinnung genannt. Bloß dass diese Zeit für Emily nie enden würde. »Hat sie eingewilligt?«
»Am sechsten Tag gab es in ganz Wharfton keinen einzigen Tropfen mehr zu trinken. Auch der Wein und der Apfelsaft waren alle. Die ersten Tiere starben, und die Menschen übten Druck auf Emily aus. Da sagte sie, sie habe nie eine Rebellion im Sinn gehabt. Sie wollte immer nur ihren Sohn zurück – also ist sie gegangen.«
»Geht es ihr denn heute gut?«
Myrna runzelte die Stirn. »Es macht den Anschein. Sie hat sogar etwas Einfluss erlangt. Seit über einem Jahr lebt sie jetzt schon in der Enklave – und ihr zweites Kind, ein Junge, hat nie ein anderes Zuhause gekannt.«
Gaia sah Leon an. Der aber hatte seinen Blick auf die Enklave gerichtet, als ob er durch den Anblick der Mauern, hinter denen sich sein Vater verbarg, auch dessen Gedanken erraten könnte.
»Es gibt jetzt also ein komplettes DNS-Register«, überlegte er.
Myrna nickte. »Es hat über einen Monat gebraucht, aber wir haben von jedem Einzelnen eine Speichelprobe genommen. Danach bin ich nach draußen gezogen; und zu meiner eigenen Überraschung habe ich festgestellt, dass mir das Leben dort trotz der Geringschätzung deiner alten Nachbarschaft durchaus zusagt.«
»Er wird auch unsere DNS haben wollen«, warf Chardo Will ein.
»Davon könnt ihr ausgehen«, bestätigte Myrna. »Und ihr seid …?«
Gaia stellte die anderen kurz vor.
Zur allgemeinen Überraschung musste Dinah lachen. »Ich bin gespannt, was der Protektor von den Unfruchtbaren hält.«
Myrna warf Gaia einen fragenden Blick zu.
»Viele unserer Männer sind unfruchtbar«, erklärte sie. »Wir vermuten, dass sie zwei X-Chromosomen besitzen – wahrscheinlich werden wir das jetzt bald herausfinden.«
Erstaunt ließ Myrna den Blick über die Karawane schweifen. »Wie steht es mit den Frauen? Sind sie denn fruchtbar?«
Dinah nickte lächelnd. »Kann man so
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