Der Weg der Helden
Vertreibe sie, Weib! Dein Leben steht auf dem Spiel!
Sofarita blinzelte und versuchte sich aufzurichten. Sie fühlte sich schwach, und ihr war übel. Das Gesicht, das unmittelbar vor ihr schwebte, schien jetzt nur noch aus Augen zu bestehen, aus riesigen, grün leuchtenden Augen. Wut flammte in ihr auf, rauschte empor wie eine Sturzflut. Almeias Bild flackerte und… war verschwunden.
Sofarita fröstelte. Du musst auf der Hut sein, erklärte die Stimme. Sie wird dich wieder angreifen. Du bist ihr Feind, und du bist sterblich. Sie wird nicht ruhen, bis du vernichtet bist.
» Wer bist du?«
Ein anderes Gesicht flackerte in ihrem Geist auf. Es war das Gesicht eines Mannes von mittlerem Alter mit ledriger Haut und tief liegenden, dunklen Augen. Er trug ein mit Perlen und zwei Adlerfedern besetztes Stirnband und hatte grau meliertes schwarzes Haar, das zu Zöpfen geflochten war.
Ich bin Einäugiger-Fuchs, erklärte er. Ich bin Schamane der Anajo, des ersten Volkes. Ich habe dich zu erreichen versucht, als du über meine Siedlung hinweggeflogen bist.
» Daran kann ich mich erinnern. Hast du alles gehört, was sie zu mir sagte?«
Die meisten ihrer Worte.
» Hat sie die Wahrheit gesagt? Bin ich dazu verdammt, wie sie zu werden, ein Block aus Kristall?«
Als er antwortete, klang seine Stimme traurig. Ich bin nicht stark genug, um sie zu bekämpfen, ich kann dich nur vor ihr verstecken. Aber ich spüre die Wahrheit in diesen Worten. Das, wovon sie sprach, ist tatsächlich mit ihr geschehen, vor Hunderten von Jahren. Ich bin über die Graue Straße gewandelt und habe es gesehen. Einst war sie sanft und fürsorglich, hat ihre Macht benutzt, um zu heilen. Jetzt verlangt sie die Opferung von Tausenden. Ihr Verlangen nach Blut und Tod ist unersättlich.
» Dann werde ich sie vernichten, bevor ich sterbe.«
Jemand muss sie vernichten, bevor wir alle sterben, erklärte er. Wo ist Talaban?
» Ich kenne diesen Namen nicht. Ist er ein Avatar?«
Er ist der Kapitän des schwarzen Schiffes. Er weiß, wo die letzte Schlacht ausgetragen werden muss.
» Und wo?«, erkundigte sich Sofarita.
Das weiß ich noch nicht. Aber Talaban wird es wissen, wenn die Zeit gekommen ist. Er und Berühr-den-Mond werden auf dem Berg stehen wie Lichter in der Dunkelheit.
Seine Stimme verklang, und Sofarita war wieder allein.
Allein und dem Tode geweiht! Sie hatte in ihrem jungen Leben so viele kleine Pläne geschmiedet. Sie wollte ihre große Liebe finden und eine Familie gründen. Sie wollte ein Heim in den Bergen errichten, in der Nähe eines Wasserfalles, und dort einen Blumengarten anlegen. Winzige Träume, die sie im ersten Jahr ihrer Witwenschaft getröstet hatten. In gewisser Weise hatte sie ihren Ehemann geliebt. Veris war ein guter Mann gewesen, aber er war zwanzig Jahre älter als Sofarita gewesen. Ihr Vater hatte sie verheiratet, weil Veris Land besaß, das an seins grenzte. Der Brautpreis waren zwei Weiden gewesen. Sofarita hatte nicht widersprochen. Sie hatte Veris schon ihr ganzes Leben lang gekannt. Er war ein sanfter Mann gewesen und hatte gern gelacht. Er hatte sie zärtlich geliebt, und Sofarita wusste, dass sie mit diesem Mann zufrieden sein konnte. Am letzten Morgen seines Lebens, elf Wochen nach der Hochzeit, hatte er sie auf die Wange geküsst und war auf die Felder gegangen. An der Tür war er stehen geblieben, hatte sich umgedreht und sie noch einmal umarmt.
» Du hast mich zum ersten Mal in meinem Leben glücklich gemacht«, hatte er gesagt.
Das waren die letzten Worte, die er zu ihr gesagt hatte.
Einen Monat nach seinem Tod hatte sie eine starke Erkältung gepackt, die sich zu einem schmerzhaften, krampfhaften Husten ausgewachsen hatte. Sie hatte Gewicht verloren und war immer schwächer geworden. Damals war sie dem Tod geweiht gewesen.
Das war jetzt anders.
Der magische Stein des Avatar hatte all ihre Hoffnungen und Träume neu entfacht, und es fühlte sich so grausam an, dass sie auf diese schreckliche Art und Weise in tausend Stücke zerbrachen. Das Dorfleben war im Allgemeinen viel zu pragmatisch, als dass dort für so etwas Subtiles wie Ironie Platz gewesen wäre. Jetzt jedoch begriff sie das Prinzip. Sie besaß bemerkenswerte Macht und die Fähigkeit, jede Wunde oder jede Krankheit zu heilen, und konnte dennoch ihr eigenes Leben nicht retten. Viruk, so schien es, hatte sie nicht im Geringsten gerettet, sondern sie nur auf einen anderen Weg des Untergangs geführt.
Sie hatte dem Schamanen gesagt, sie würde
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