Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
zurückgezogen.
Seine Zufriedenheit dauerte nicht lange an. Warum sagten die Leute denn andauernd solche Dinge über seinen Vater? Sie nannten ihn morbid und unnatürlich und rannten lieber zu einem fahrenden Apotheker oder Glücksverkäufer und holten sich dort Glyphen und Amulette. Der Allmächtige möge sich doch eines Mannes erbarmen, der tatsächlich etwas Nützliches und Hilfreiches tat!
Kal war noch immer wütend, als er einige Ecken umrundet hatte und auf seine Mutter zutrat, die auf einem Schemel neben der Stadthalle stand und vorsichtig an der Traufe des Gebäudes meißelte. Hesina war eine große Frau, und für gewöhnlich trug sie ihr Haar zu einem Zopf geflochten, den sie sich mit einem Tuch um den Kopf band. Heute aber hatte sie noch eine Häkelhaube darüber. Sie steckte in einem langen braunen Mantel, der dem von Kal glich, und der blaue Saum ihres Rockes lugte ein ganz klein wenig darunter hervor.
Die Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit waren einige eiszapfenähnliche Felszungen, die sich an den Dachrändern gebildet hatten. Die Großstürme regneten Sturmwasser ab, und im Sturmwasser befand sich Krem. Wenn man ihn sich selbst überließ, wurde der Krem irgendwann so hart wie Stein. Von den Häusern wuchsen deshalb Stalaktiten herab, die von dem langsam aus den Traufen tropfenden Sturmwasser gebildet wurden. Man musste sie regelmäßig entfernen, denn sonst konnte das Dach irgendwann so schwer werden, dass es zusammenbrach.
Sie bemerkte ihn und lächelte; ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Mit ihrem schmalen Gesicht, dem vorgereckten Kinn und den vollen Lippen war sie durchaus eine hübsche Frau. Zumindest war Kal dieser Meinung. Jedenfalls war sie hübscher als die Bäckersfrau.
»Hat dich dein Vater schon vom Unterricht weggelassen?«, fragte sie.
»Alle hassen Vater«, platzte es aus ihm heraus.
Seine Mutter wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Kaladin, du bist dreizehn. Du bist doch alt genug, um zu wissen, dass man etwas so Dummes nicht sagt.«
»Aber es stimmt«, beharrte er trotzig. »Ich habe vorhin zwei Frauen über ihn sprechen hören. Sie haben gesagt, dass Vater die Kugeln von Hellherr Wistiow gestohlen hat. Sie sagen auch, dass Vater gern Menschen aufschneidet und Dinge tut, die nich’ natürlich sind.«
»Die nicht natürlich sind.«
»Warum darf ich nicht wie alle anderen reden?«
»Weil es nicht anständig ist.«
»Für Nanha Terith ist es aber anständig genug.«
»Und wie denkst du über sie?«
Kal zögerte. »Sie ist dumm. Und sie spricht gern über Dinge, von denen sie nichts versteht.«
»Also bitte. Wenn du ihr nacheifern willst, dann habe ich nichts gegen deine Sprache.«
Kal zog eine Grimasse. Man musste aufpassen, wenn man mit Hesina sprach; sie liebte es, einem die Worte im Munde herumzudrehen. Er lehnte sich gegen die Mauer der Stadthalle und sah zu, wie sein Atem in kleinen Wölkchen vor ihm hertrieb. Vielleicht hatte eine andere Taktik ja mehr Erfolg. »Mutter, warum hassen die Leute den Vater eigentlich?«
»Sie hassen ihn nicht«, antwortete sie. Doch seine ruhig gestellte Frage brachte sie dazu weiterzureden. »Aber er verschafft … er weckt ein Gefühl des Unbehagens … bei ihnen.«
»Warum denn?«
»Weil manche Menschen Angst vor dem Wissen haben. Dein Vater ist ein gelehrter Mann; er weiß Dinge, die die anderen nicht verstehen. Und solche Dinge sind für sie dunkel und geheimnisvoll. «
»Aber sie haben keine Angst vor Glücksverkäufern und Bannglyphen. «
»Die können sie verstehen«, sagte seine Mutter gelassen. »Du verbrennst eine Bannglyphe vor deinem Haus, und das Böse wendet sich von ihm ab. Das ist leicht. Dein Vater gibt niemandem eine Glyphe zur Heilung. Er beharrt darauf, dass der Kranke im Bett bleibt, Wasser trinkt, irgendeine schlecht schmeckende Medizin nimmt und jeden Tag seine Wunde auswäscht. Das ist schwer. Die Menschen überlassen lieber alles dem Schicksal.«
Kal dachte darüber nach. »Ich glaube, sie hassen ihn, weil er zu oft versagt.«
»Da haben wir es wieder. Wenn eine Bannglyphe versagt, kannst du das auf den Willen des Allmächtigen schieben. Wenn aber dein Vater versagt, dann ist es seine eigene Schuld. So sieht man das.« Seine Mutter arbeitete weiter; Steinsplitter fielen überall um sie herum auf den Boden. »Sie werden deinen Vater niemals wirklich hassen , denn dazu ist er viel zu nützlich für sie. Aber er wird auch niemals einer von ihnen sein. Das ist eben der Preis dafür, ein Arzt zu
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