Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
Unzeit eingesetzt werden. So wie das vorhin erwähnte Messer im Rücken ist eine kluge Spöttelei immer dann am wirksamsten, wenn sie am wenigsten erwartet wird.«
»Es tut mir leid, Hellheit.«
»Das war kein Tadel«, erklärte Jasnah und blätterte wieder um, »sondern nur eine Beobachtung. Solche Bemerkungen
mache ich gelegentlich, vor allem, wenn die Bücher sehr verstaubt sind. Heute ist der Himmel blau. Und mein Mündel ist eine scharfzüngige Gestrauchelte.«
Schallan lächelte.
»Und jetzt sage mir, was du herausgefunden hast.«
Schallan zog eine Grimasse. »Nicht viel, Euer Hellheit. Oder sollte ich sagen: zu viel? Jede Autorin hat ihre eigene Theorie darüber, warum die Parschendi Euren Vater getötet haben. Einige behaupten, er müsse sie bei dem Fest in jener Nacht beleidigt haben. Andere sagen, der gesamte Pakt sei eine List gewesen, damit die Parschendi an ihn herankommen konnten. Aber das ergibt eigentlich keinen Sinn, denn sie hätten vorher bereits wesentlich bessere Möglichkeiten gehabt.«
»Und wie denkst du darüber?«
»Ich fühle mich nicht in der Lage, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, Hellheit.«
»Was ist der Sinn von Nachforschungen, wenn man keine Rückschlüsse daraus zieht?«
»Meine Lehrerinnen haben mir gesagt, dass nur die sehr Erfahrenen eigene Hypothesen aufstellen dürfen«, erklärte Schallan.
Jasnah schnaubte verächtlich. »Deine Lehrerinnen waren Dummköpfe. Jugendliche Unreife ist einer der großen Katalysatoren des Kosmeers zur Hervorbringung von Veränderungen, Schallan. Weißt du, dass der Sonnenmacher erst siebzehn Jahre alt war, als er mit seinen Eroberungen begann? Gavarah hatte gerade ihre zwanzigste Weinung erreicht, als sie die Theorie der drei Reiche veröffentlichte.«
»Aber für jeden Sonnenmacher und jede Gavarah gibt es Hunderte Gregorhs, oder etwa nicht?« Er war ein jugendlicher König, berüchtigt dafür, einen unnötigen Krieg gegen jene Reiche begonnen zu haben, die mit seinem Vater verbündet gewesen waren.
»Es gab nur einen einzigen Gregorh«, sagte Jasnah und verzog das Gesicht, »zum Glück. Aber dein Argument ist stichhaltig.
Darin liegt der Sinn von Erziehung. Jung sein heißt tatkräftig sein. Eine Gelehrte zu sein bedeutet, aus einem Wissen heraus zu handeln.«
»Oder es bedeutet, in einem Alkoven zu sitzen und etwas über einen sechs Jahre zurückliegenden Mord zu lesen.«
»Ich würde dir diese Aufgabe nicht gegeben haben, wenn sie sinnlos wäre«, sagte Jasnah und öffnete ein weiteres ihrer eigenen Bücher. »Zu viele Wissenschaftlerinnen betrachten die Forschung als eine rein geistige Übung. Wenn wir nichts mit dem Wissen unternehmen, das wir uns angeeignet haben, dann haben wir unsere Studien tatsächlich umsonst getrieben. Bücher können Informationen besser speichern als wir selbst, aber Bücher können die Fakten nicht interpretieren. Wenn man also nicht bereit ist, Schlussfolgerungen zu ziehen, dann braucht man die Bücher erst gar nicht aufzuschlagen.«
Nachdenklich lehnte sich Schallan zurück. Wenn sie es auf diese Weise betrachtete, wollte sie sich lieber gleich wieder in ihre Studien vergraben. Doch was sollte sie mit diesen Hinweisen anfangen? Wieder verspürte sie Schuldgefühle. Jasnah machte sich die Mühe, ihr die Wissenschaft nahezubringen, und sie wollte es dieser Frau damit vergelten, dass sie ihr das Wertvollste stahl, was sie besaß, und ihr stattdessen ein zerbrochenes Gerät hinterließ. Bei diesem Gedanken fühlte sich Schallan elend.
Sie hatte erwartet, das Studium unter Jasnah beziehe sich auf sinnentleertes Auswendiglernen und bedeutungsloses Zuarbeiten, begleitet von Züchtigungen wegen mangelnder Klugheit. So hatte die Ausbildung durch ihre Lehrerinnen ausgesehen. Doch Jasnah war anders. Sie gab Schallan ein Thema und ließ ihr völlige Freiheit in dessen Bearbeitung. Jasnah ermutigte sie und diskutierte auch mit ihr, aber fast alle Gespräche drehten sich um solche Dinge wie wahre Wissenschaft, den Zweck des Lernens, die Schönheit des Wissens und deren Anwendung.
Jasnah Kholin liebte die Gelehrsamkeit wirklich sehr, und diese Liebe wollte sie auch bei anderen hervorrufen. Hinter ihrem ernsten Blick, den durchdringenden Augen und den selten lächelnden Lippen verbarg sich eine Jasnah Kholin, die wirklich an das glaubte, was sie tat. Was immer es auch sein mochte.
Schallan nahm eines ihrer Bücher zur Hand und spähte dabei verstohlen auf die Rückenbeschriftungen der Bände, die Jasnah
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