Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
und hielt das zerknitterte Blatt noch immer vor die Brust gedrückt. Der König zog sich zusammen mit seinen Dienern zurück. Dann betraten einige Parscher die Loge und trugen den Tisch fort.
»Mir ist noch nie aufgefallen, dass du beim Zeichnen einen Fehler machst«, sagte Jasnah, während sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte. »Zumindest keinen so schlimmen, dass du das Bild zerstören müsstest.«
Schallan errötete.
»Vermutlich muss sogar eine Meisterin manchmal üben. Nimm dir die nächste Stunde frei, damit du ein gutes Porträt Seiner Majestät zeichnen kannst.«
Schallan blickte auf das zerstörte Bild hinunter. Die Kreaturen waren lediglich ihrer eigenen Fantasie entsprungen, als sie sich nicht ausreichend konzentriert hatte. Das war alles. Sie waren bloß Einbildung. Vielleicht gab es ja etwas in ihrem Unterbewusstsein, das sie unbedingt darstellen wollte. Aber was bedeuteten die Gestalten in diesem Fall?
»Ich habe bemerkt, dass du an einer Stelle zögertest, als du mit dem König gesprochen hast«, sagte Jasnah. »Was hast du verschwiegen?«
»Etwas Unangemessenes.«
»Aber etwas Schlagfertiges?«
»Schlagfertigkeit ist nicht mehr sonderlich beeindruckend, wenn sie außerhalb des Zusammenhangs betrachtet wird, Hellheit. Es war nur ein dummer Gedanke.«
»Und du hast ihn durch ein leeres Kompliment ersetzt. Ich glaube, du hast nicht verstanden, was ich dir erklären wollte,
mein Kind. Ich will nicht, dass du schweigst. Es ist gut, schlagfertig zu sein.«
»Aber wenn ich etwas gesagt hätte«, verteidigte sich Schallan, »dann hätte ich den König damit beleidigt und vielleicht auch verwirrt … was ihn gewiss in Verlegenheit gebracht hätte. Ich bin sicher, dass er weiß, was die Leute über die Langsamkeit seines Denkens sagen.«
Jasnah schnaubte verächtlich. »Hohle Worte. Von dummen Menschen. Vielleicht war es doch klug, nichts zu sagen, aber du solltest immer daran denken, dass es etwas anderes ist, deine Fähigkeiten zu kanalisieren , als sie zu ersticken . Es wäre mir lieber, wenn du etwas Kluges und zugleich Schickliches aussprechen würdest.«
»Ja, Hellheit.«
»Außerdem glaube ich, dass du Taravangian zum Lachen gebracht hättest«, fuhr Jasnah fort. »In letzter Zeit scheint er von irgendetwas heimgesucht zu werden.«
»Ihr empfindet ihn also nicht als geistlos?«, fragte Schallan neugierig. Sie selbst hielt den König zwar keineswegs für einen Narren, aber sie nahm an, dass jemand so Kluges und Gelehrtes wie Jasnah keine Geduld mit einem Mann wie ihm haben mochte.
»Taravangian ist ein wunderbarer Mann«, antwortete Jasnah, »und mehr wert als hundert selbst ernannte Experten für höfische Angelegenheiten. Er erinnert mich an meinen Onkel Dalinar. Ernst, aufrichtig, besorgt.«
»Die Hellaugen sagen aber, er sei schwach«, meinte Schallan. »Weil er so vielen anderen Monarchen nachgibt, weil er den Krieg fürchtet und weil er keine Splitterklinge hat.«
Darauf erwiderte Jasnah nichts, aber sie wirkte beunruhigt.
»Hellheit?«, bedrängte Schallan sie, während sie zu ihrem eigenen Stuhl hinüberging und ihre Kohlestifte zurechtlegte.
»In den alten Zeiten«, setzte Jasnah an, »wurde ein Mann, der seinem Reich den Frieden brachte, als sehr wertvoll eingeschätzt.
Jetzt wird derselbe Mann als Feigling verspottet.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Veränderung entwickelt sich bereits seit Jahrhunderten. Sie sollte uns Angst machen. Wir könnten mehr solcher Männer, wie Taravangian einer ist, brauchen, und ich möchte dich bitten, ihn nie wieder geistlos zu nennen.«
»Ja, Hellheit«, sagte Schallan und senkte den Kopf. »Glaubt Ihr aber wirklich an das, was Ihr über den Allmächtigen gesagt habt?«
Jasnah schwieg eine Weile. »Ja. Auch wenn ich meine Überzeugung vielleicht etwas zu deutlich hervorgehoben habe.«
»Die Selbstsicherheitsbewegung?«
»Ja«, sagte Jasnah. »Ich vermute, das wird es gewesen sein. Ich sollte dir heute beim Lesen nicht den Rücken zuwenden.«
Schallan lächelte.
»Eine wahre Gelehrte darf auf keinem Gebiet engstirnig sein«, setzte Jasnah hinzu, »gleichgültig, wie sie darüber denkt. Nur weil ich noch keinen guten Grund gefunden habe, einem der Devotarien beizutreten, bedeutet das noch lange nicht, dass ich es nie tun werde. Allerdings wird mein Entschluss mit jedem Gespräch wie dem heutigen fester.«
Schallan biss sich auf die Lippe. Jasnah bemerkte es. »Du wirst lernen müssen, das zu kontrollieren, Schallan. Es
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