Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
zusammenzählt, ergibt das zwei, oder?«
»Ja.«
»Kein Gott muss Euch erklären, dass das richtig ist«, fuhr Jasnah fort. »Könnten wir daher nicht sagen, dass Mathematik auch außerhalb des Allmächtigen und ganz unabhängig von ihm existiert?«
»Vielleicht.«
»Gut«, sagte Jasnah. »Ich behaupte doch einfach nur, dass Moral und menschlicher Wille ebenfalls unabhängig von ihm existieren.«
»Wenn Ihr das sagt«, bemerkte der König und kicherte, »dann habt Ihr jede Begründung für die Existenz des Allmächtigen geradezu weggenommen.«
»Allerdings.«
Nun wurde es still in dem Alkoven. Jasnahs Kugellampen warfen ein kühles und gleichmäßiges weißes Licht auf die Personen. Einen unangenehmen Augenblick lang war das Kratzen von Schallans Kohlestift auf dem Zeichenpapier der einzige Laut. Sie arbeitete mit raschen, schabenden Bewegungen. Das, was Jasnah gesagt hatte, beunruhigte sie. Es verschaffte ihr ein Gefühl der Leere in ihrem Inneren. Teilweise lag das daran, dass der König trotz seiner Leutseligkeit nicht gut im Argumentieren war. Er war zwar ein lieber Mensch, aber kein Gesprächsgegner für Jasnah.
»Ich muss sagen, dass Ihr Eure Argumente ziemlich wirkungsvoll vorbringt. Allerdings stimme ich ihnen nicht zu.«
»Ich beabsichtige auch nicht, Euch zu bekehren, Majestät«, wandte Jasnah ein. »Es reicht mir schon, meinen Glauben für mich zu behalten. Das ist etwas, womit meine Kollegen in den Devotarien große Schwierigkeiten haben. Schallan, bist du fertig?«
»Fast, Hellheit.«
»Aber sie zeichnet doch erst seit zehn Minuten«, wunderte sich der König.
»Sie hat ein bemerkenswertes Talent, Majestät«, sagte Jasnah. »Ich glaube, das erwähnte ich bereits.«
Schallan lehnte sich zurück und betrachtete ihr Werk. Sie hatte sich ganz auf das Gespräch konzentriert und so auf ihre Instinkte vertraut, dass ihre Hand wie aus eigenem Willen gezeichnet hatte. Das Bild stellte den König dar, wie er mit kluger Miene auf seinem Stuhl saß, während hinter ihm die Wände der turmartigen Loge aufragten. Die Tür befand sich rechts von ihm. Ja, es war wirklich eine gelungene Darstellung. Zwar nicht gerade ihre beste Arbeit, aber …
Schallan erstarrte, hielt den Atem an, und ihr Herz hämmerte. Sie hatte etwas in den Türdurchgang neben dem König gezeichnet. Es waren zwei große und gertenschlanke Gestalten
in Mänteln, die vor der Brust aufklafften und an den Seiten so steif herunterhingen, als bestünden sie aus Glas. Dort, wo eigentlich die Köpfe der Gestalten hätten sein sollen, befanden sich zwei große, fließende und ineinander verschlungene Symbole. Sie erhoben sich über den hohen, steifen Krägen in unmöglichen Winkeln und Geometrien.
Verblüfft saß Schallan da. Warum hatte sie das gezeichnet? Was hatte sie nur dazu getrieben …
Ruckartig hob sie den Kopf. Der Korridor hinter der Loge war leer. Die Kreaturen waren nicht Teil des Bildes gewesen, das sich Schallan eingeprägt hatte. Ihre Hände hatten sie aus eigenem Antrieb gezeichnet.
»Schallan?«, fragte Jasnah.
Reflexartig ließ Schallan ihren Kohlestift fallen, ergriff das Blatt mit der Freihand und zerknüllte es. »Es tut mir leid, Hellheit. Ich habe dem Gespräch zu große Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war nachlässig.«
»Wir dürfen es doch sicher einmal sehen, mein Kind«, sagte der König und stand auf.
Schallans Griff wurde noch fester. »Bitte nicht!«
»Manchmal hat sie eben auch das Temperament einer Künstlerin, Euer Majestät«, seufzte Jasnah. »Es wird nicht möglich sein, ihr das Bild zu entlocken.«
»Ich werde ein neues zeichnen, Majestät«, versprach Schallan. »Es tut mir so leid.«
Er rieb sich über den dünnen Bart. »Ja, dann ist es in Ordnung. Es sollte nämlich ein Geschenk für meine Enkelin sein …«
»Ihr werdet es heute Abend erhalten«, sicherte ihm Schallan zu.
»Das wäre wunderbar. Bist du sicher, dass ich dir nicht mehr Modell sitzen muss?«
»Das wird nicht nötig sein, Majestät«, sagte Schallan. Ihr Puls raste noch, und sie wurde das Bild der beiden verzerrten Gestalten einfach nicht los. Also prägte sie sich ein weiteres
Bild des Königs ein, das sie für ein passenderes Porträt verwenden konnte.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte der König. »Ich will noch eines der Hospitäler für die Kranken besuchen. Du kannst die Zeichnung zu meinen Gemächern schicken lassen, aber nimm dir bitte genügend Zeit. Alles ist in Ordnung.«
Schallan machte einen Knicks
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