Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
allen Einzelheiten und deutete die geschäftige Stadt hinter ihnen an. Die Augen waren ihr gelungen. Das war das Wichtigste. Jede der Zehn Essenzen besaß einen entsprechenden Teil im menschlichen Körper: Blut und Flüssigkeit, Haar und Holz und so weiter. Die Augen waren mit Kristall und Glas verbunden. Sie galten als die Fenster in den Geist eines Menschen.
Schallan legte das Blatt beiseite. Einige Menschen sammelten Trophäen. Andere sammelten Waffen oder Schilde. Viele sammelten Kugeln.
Schallan sammelte Menschen. Menschen und interessante Kreaturen. Vielleicht lag das auch daran, dass sie in ihrer Jugend so viel Zeit eingeschlossen in ihrem Zimmer verbracht hatte. Sie hatte die Angewohnheit entwickelt, sich Gesichter einzuprägen und sie später zu zeichnen, nachdem ihr Vater sie einmal dabei erwischt hatte, wie sie die Gärtner porträtiert hatte. Seine Tochter? Sie zeichnete Dunkelaugen? Er war wütend auf sie gewesen; es war eines der wenigen Male gewesen, wo sich sein berüchtigter Zorn gegen seine eigene Tochter gerichtet hatte.
Danach hatte sie Menschen nur noch gezeichnet, wenn sie allein war, und draußen lediglich Insekten, Schalentiere und die Pflanzen des Gartens um das Herrenhaus herum. Dagegen hatte ihr Vater nichts gehabt – Zoologie und Botanik waren schließlich anständige weibliche Beschäftigungen. Und er hatte sie sogar dazu ermuntert, Naturgeschichte als ihre Berufung zu betrachten.
Sie nahm ein drittes leeres Blatt. Es schien sie anzuflehen, gefüllt zu werden. Eine weiße Seite bedeutete nichts als Möglichkeiten und war vollkommen nutzlos, solange nicht damit gearbeitet wurde – so wie eine voll aufgeladene Kugel in einem Beutel, der es verhinderte, dass ihr Licht von Nutzen war.
Füll mich aus.
Die Schöpfungssprengsel versammelten sich um die Seite. Sie waren still, wirkten neugierig und voller Vorfreude. Schallan schloss die Augen und stellte sich Jasnah Kholin vor, wie sie vor der blockierten Tür stand und der Seelengießer auf ihrer Hand glitzerte. Außer dem Schniefen eines Kindes war auf dem Gang nichts zu hören. Die Diener hielten den Atem an. Der König hatte Angst. Und empfand stille Ehrfurcht.
Schallan öffnete die Augen und zeichnete heftig; sie hatte vor, sich in ihrer Arbeit zu verlieren. Je weniger sie im Hier und Jetzt war und je näher sie dem Damals kam, desto besser wurde die Zeichnung. Die anderen beiden Bilder waren Fingerübungen gewesen, und dies hier sollte das Meisterwerk dieses Tages werden. Das Blatt war in die Mappe geklemmt, die von der Schutzhand gehalten wurde, während ihre Freihand über das Papier flog und bisweilen andere Stifte nahm. Weiche Kohle für tiefe, dichte Schwärze, zum Beispiel in Jasnahs Haaren. Harte Kohle für helles Grau, etwa für die kräftigen Lichtwellen, die aus Jasnahs Edelsteinen drangen.
Für einige lange Augenblicke befand sich Schallan wieder in dem Gang und beobachtete etwas, das eigentlich nicht sein
durfte: die häretische Anwendung einer der heiligsten Kräfte in der Welt. Die Macht der Verwandlung, durch die der Allmächtige die Welt erschaffen hatte. Er besaß noch einen anderen Namen, der nur von den Lippen der Feuerer dringen durfte. Elithanathile. Jener, Der Verwandelt.
Schallan konnte den staubigen Korridor riechen. Sie hörte das Jammern des Kindes. Sie spürte, wie ihr eigenes Herz schneller schlug. Bald würde sich der Felsblock verwandeln. Er würde das Sturmlicht in Jasnahs Edelsteinen aufsaugen, seine Essenz aufgeben und zu etwas Neuem werden. Schallan hielt den Atem an.
Und dann verblasste die Erinnerung, und sie kehrte in den stillen, schwach erleuchteten Alkoven zurück. Nun befand sich auf dem Papier eine vollkommene Wiedergabe der Szene, ausgearbeitet in Schwarz und Grau. Die stolze Gestalt der Prinzessin betrachtete den niedergestürzten Stein und verlangte, dass er sich ihrem Willen beuge. Das war sie. Schallan wusste mit der Intuition der Künstlerin, dass dies zu den besten Bilder gehörte, die sie je gezeichnet hatte. Sie hatte Jasnah Kholin eingefangen, was den Devotariern niemals gelungen war. Das verschaffte ihr ein Hochgefühl. Selbst wenn diese Frau Schallan noch einmal abweisen sollte, würde sich eine Tatsache doch niemals mehr ändern. Jasnah Kholin war in Schallans Sammlung eingegliedert worden.
Schallan wischte sich die Finger an ihrem Säuberungstuch ab und hob das Blatt hoch. Geistesabwesend bemerkte sie, dass sie inzwischen etwa zwei Dutzend Schöpfungssprengsel angezogen
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