Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
erdrückt.
»Eure Hellheit?«, fragte ein herbeikommender junger Meisterdiener. »Was benötigt Ihr?«
»Einen neuen Sinn für Perspektive, wie mir scheint«, sagte Schallan geistesabwesend. »Wie …«
»Dieser Raum wird der Schleier genannt«, erklärte der Diener leise. »Er liegt unmittelbar vor dem Palanaeum. Beide befanden sich schon hier, als die Stadt gegründet wurde. Einige glauben, dass diese Kammern von den Dämmerungssängern höchstpersönlich aus dem Stein geschnitten wurden.«
»Wo sind die Bücher?«
»Das eigentliche Palanaeum befindet sich in dieser Richtung. « Der Diener führte sie zu einer Doppeltür auf der anderen Seite des Raumes. Durch sie betrat Schallan einen kleineren Raum, der mit Wänden aus dickem Kristall abgeteilt war. Schallan trat an diejenige heran, die sich ihr am nächsten befand, und betastete sie. Die Oberfläche des Kristalls war so rau wie gemeißelter Stein.
»Seelengegossen?«, fragte sie.
Der Diener nickte. Hinter ihm ging ein weiterer Diener vorbei und führte einen alten Feuerer. Wie die meisten Feuerer hatte der alte Mann einen kahl geschorenen Kopf und einen langen Bart. Seine einfache graue Robe wurde durch
eine braune Schärpe zusammengehalten. Der Diener geleitete ihn um eine Biegung herum, und Schallan erkannte die Umrisse der beiden undeutlich auf der anderen Seite. Schatten schwammen durch den Kristall.
Sie tat einen Schritt nach vorn, doch der Diener räusperte sich sofort. »Ich brauche Eure Zugangsberechtigung, Hellheit. «
»Wie viel kostet sie?«, fragte Schallan zögerlich.
»Tausend Saphirbrome.«
»So viel?«
»Die vielen Hospitäler des Königs verschlingen eine Unmenge Geld«, sagte der Mann entschuldigend. »Das Einzige, was Kharbranth zu verkaufen hat, sind Fische, Glocken und Nachrichten – Informationen. Die ersten beiden bekommt man auch woanders. Aber das dritte … nun, das Palanaeum besitzt die beste Sammlung von Büchern und Schriftrollen in ganz Roschar. Sie ist sogar noch größer als die der Heiligen Enklave in Valath. Bei der letzten Zählung befanden sich über siebenhunderttausend einzelne Texte in unserem Archiv.«
Ihr Vater hatte genau siebenundachtzig Bücher besessen. Schallan hatte sie alle mehrfach gelesen. Wie viel stand wohl in siebenhunderttausend Büchern? Das Gewicht dieser Informationen machte sie benommen. Sie gierte danach, diese verborgenen Regale zu durchstöbern. Doch sie könnte ganze Monate damit verbringen, lediglich die Titel zu lesen.
Aber nein. Sobald sie dafür gesorgt hatte, dass sie und ihre Brüder gerettet und die Familienfinanzen wieder in Ordnung gebracht waren, würde sie zurückkehren. Vielleicht.
Sie fühlte sich, als stünde sie kurz vor dem Verhungern, würde aber eine warme Fruchtpastete unangetastet stehen lassen. »Wo darf ich warten«, fragte sie, »falls jemand, den ich kenne, hier drinnen ist?«
»Ihr könnt eine der Leselogen benutzen«, sagte der Diener und entspannte sich. Vielleicht hatte er befürchtet, dass sie
ihm eine Szene machte. »Dazu ist keine Erlaubnis notwendig. Die Parscher-Diener werden Euch auf eine höhere Ebene fahren, falls Ihr das wünscht.«
»Danke«, sagte Schallan und drehte dem Palanaeum den Rücken zu. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind, eingesperrt in ihr Zimmer und ohne die Erlaubnis, durch die Gärten zu laufen – wovor ihr Vater eine paranoide Angst gehabt hatte. »Hat Ihre Hellheit Jasnah schon eine Loge?«
»Ich werde nachfragen«, erklärte der Diener und führte sie zum Schleier mit seiner fernen, unsichtbaren Decke zurück. Er eilte davon, um mit einigen anderen zu sprechen, und ließ Schallan neben der Tür zum Palanaeum stehen.
Sie könnte hineinlaufen. Sie könnte hineinspähen …
Nein. Ihre Brüder zogen sie damit auf, dass sie zu furchtsam war, aber es war gar keine Furchtsamkeit, die sie zurückhielt. Es würde zweifellos Wächter geben, und ein Eindringen wäre nicht nur sinnlos, sondern würde auch jede Aussicht darauf zerstören, dass Jasnah es sich anders überlegte.
Bring Jasnah dazu, dass sie es sich anders überlegt. Zeig ihr, wie gut du bist. Der Gedanke daran machte sie krank. Sie hasste solche Konfrontationen. In ihrer Jugend hatte sie sich wie ein Stück zerbrechlichen Kristalls empfunden, eingeschlossen in einen Glasschrank – ausgestellt zwar, aber niemals benutzt. Die einzige Tochter, die letzte Erinnerung an die geliebte Frau des Hellherrn Davar. Es verursachte ihr noch immer ein seltsames Gefühl, dass sie nun
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