Der Weg des Feuers
der dreifachen Geburt unterziehen.
»Betrachte den Nun«, sagte der Ritualist. »In den Tiefen dieses Urmeers finden alle Verwandlungen statt.«
»Ich sehne mich nach Reinheit«, erklärte Isis, wie sie es in den alten Schriften gelesen hatte. »Ich ziehe jetzt meine Kleider aus und reinige mich nach dem Vorbild von Horus und Seth. Wenn ich dann den Nun verlasse, bin ich all meiner Fesseln entledigt.«
Gern wäre Isis noch länger in diesem kühlen Wasser geblieben. Sie erinnerte sich an die verschiedenen Schritte ihrer Initiation. Aber die Priesterin reichte ihr die Hand und setzte sie auf einen würfelförmigen Stein.
»Hier ist die silberne Schale, die der Handwerker Sokar getrieben hat, der Falkengott der Tiefe, der den Weg zur Auferstehung kennt«, sagte der Priester. »Ich wasche dir in dieser Schale die Füße.«
Die Priesterin streifte Isis ein langes weißes Kleid über und band ihr die Taille mit einem roten Gürtel, in den sie den magischen Knoten machte. Dann zog sie ihr Sandalen an, die ebenfalls weiß waren.
»So werden deine Fußsohlen gestärkt. Diese Sandalen sind die Augen von Horus, die dir deinen Weg erleuchten sollen. Dank ihnen wirst du nicht vom Weg abkommen. Auf dieser Reise, die dir bevorsteht, wirst du gleichzeitig ein Osiris und eine Hathor – das Männliche und das Weibliche vereinen sich in dir. Mit Hilfe aller Elemente der Schöpfung sollst du den Fuß auf die Schwelle des Todes setzen und sein unbekanntes Haus betreten. Erblicke die Sonne tief in der Nacht, nähere dich den Gottheiten, und sieh sie von Angesicht zu Angesicht.«
Die Priesterin reichte Isis eine Blumenkrone.
»Nimm dies Geschenk des Herrn der Westlichen entgegen. Möge diese Krone der Gerechten die Klugheit deines Herzens erblühen lassen. Das große Tor öffnet sich jetzt für dich.«
Ein Anubis mit dem Gesicht eines Schakals erschien und reichte der jungen Frau die Hand. Das Paar schritt durch das Reich der alten Grabstätten, wo die ersten Pharaonen ruhten, und stieß dann auf Wächter, die mit Messern, Ähren, Palmen und Besen aus Laub bewaffnet waren.
»Ich kenne eure Namen«, sagte Isis zu ihnen. »Mit euren Messern zerschneidet ihr die feindlichen Kräfte. Mit euren Besen zerstreut ihr sie und macht sie handlungsunfähig. Eure Palmen strahlen ein Licht aus, das die Finsternis nicht auslöschen kann. Und eure Ähren belegen Osiris’ Sieg über das Nichts.«
Die Wächter verschwanden.
Anubis und Isis begaben sich in einen nur schwach beleuchteten unterirdischen Gang. Er führte sie zu einem großen Saal mit mächtigen Säulen aus Granit, in dessen Mitte sich eine Insel mit einem gewaltigen Sarkophag befand.
»Sei befreit von der Hülle deines alten Wesens«, befahl Anubis, »und schlüpfe in die Haut von Hathor, die der böse Schäfer getötet und enthauptet hat. Ich, Anubis, habe sie wiederbelebt, indem ich sie mit Milch salbte und sie dann zu meiner Mutter gebracht habe, damit sie sie wie Osiris zu neuem Leben erweckte.«
Die Haut wurde Isis übergestreift.
Zwei Priesterinnen nahmen sie am Arm und legten sie auf einen hölzernen Schlitten, das Symbol für Atum, den Schöpfer,
»Der ist« und »Der nicht ist«. Drei Ritualisten zogen nun den Schlitten mit Hilfe einer Gleitschiene zu der Insel, auf der sie der Kahle erwartete.
»Wie heißt du?«, fragte er den ersten.
»Ich bin der Einbalsamierer, der das heile Wesen bewahren soll.«
»Und du?«
»Der Wächter.«
»Dein Name?«
»Ich bin der Hüter des Lebenshauchs.«
»Besteigt den Gipfel des heiligen Berges.«
Der Geleitzug umrundete den Sarkophag.
»Ist ihr altes Herz verschwunden, Anubis?«, fragte der Kahle.
»Es wurde verbrannt, genau wie die alte Haut und die alten Haare.«
»Dann soll Isis an den Ort der Verwandlung und des neuen Lebens kommen.«
Die Ritualisten hoben die junge Frau von dem Schlitten hoch und legten sie in den Sarkophag.
»Du bist das Licht und durchquerst die Nacht. Mögen die Gottheiten dich freundlich aufnehmen und dir ihre Arme entgegenstrecken. Möge dich Osiris im Haus der Geburt empfangen.«
Und Isis erforschte Raum und Zeit jenseits der bekannten Welt.
»Du bist eingeschlafen, wir haben dich geweckt«, sagte die Stimme des Kahlen zu ihr. »Du warst ausgestreckt, wir haben dich aufgerichtet.«
Die Ritualisten halfen ihr, den Sarkophag zu verlassen. Der Saal war jetzt von vielen Fackeln beleuchtet.
»Das unvergleichliche Gestirn strahlt hell, lichtes Wesen unter lichten Wesen. Da du von Maats Insel
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