Der Weg des Unsterblichen
Noé tot genützt? Hast du einmal erlebt, wie emotional Menschen auf sterbende Wesen reagieren?« Er lachte. »Sie betrachten das Leben als endlich und einmalig, im Gegensatz zu dir oder mir. Weil es bei ihnen endlich und einmalig ist.« Einen Moment starrte er gedankenverloren auf den Boden, bevor er mich wieder ansah. »Bevor du mich getroffen hättest, bin ich also abgehauen. Ich habe sie zurückgelassen, weil ich wusste, dass du ihr schon aus öffentlichkeitswirksamen Gründen nichts tun wirst. Es wäre ja ein Skandal, wenn ihr eure Kinder verletzen oder sogar töten würdet. Aber wenn du willst, erkläre ich dir, was ich dann getan hätte.«
Mit einem Schlag verschwand jeder sarkastische Zug inklusive seines Lächelns aus seinem Gesicht. Er trat sehr nah vor mich undbaute sich auf. Obwohl er ein paar Zentimeter kleiner war als ich, ging auf einmal eine wahnsinnig bedrohliche Aura von ihm aus, vor der ich mich am liebsten weggeduckt hätte. Seine Augen wurden zu Schlitzen, die an ein gefährliches Raubtier erinnerten. »Wenn du sie eingesperrt hättest, hätte ich dich gesucht und dich auf die grausamste Art und Weise umgebracht, die du dir vorstellen kannst. Dann wäre ich in euer Gefängnis gewandert, hätte jedem den Kopf abgerissen, der sich mir in den Weg gestellt hätte und hätte sie wieder rausgeholt.« Blitzschnell griff er nach meinem Arm, mit dem ich gerade nach meinem Messer greifen wollte. Wieder lächelte er auf seine sarkastisch-mitleidige Art und senkte seine Stimme zu einem Flüstern: »Das kannst du dir für die Zukunft merken, du Engel-Abklatsch. Komm Noé zu nahe, tu ihr weh oder mach sonst irgendetwas, dass ihr schadet und ich schwöre, dass ich dir mit bloßer Hand die Eingeweide aus dem Leib reiße.«
Er ließ mich los, aber nicht ohne mir das Messer zu entreißen und es im hohen Bogen überden Rand der Klippe zu werfen. Dann grinste er mich wieder an, als wäre nichts passiert.
Mir saß der Schreck noch in den Knochen, für einen kleinen Moment hatte ich mich gefühlt, als stünde mein Vater vor mir. War das … Angst gewesen?
»Was ist dein Problem, Dämon? Ich verstehe es nicht!«, brüllte ich ihn an. »Was pflegst du für eine Verbindung zu ihr? Ist dir der Handel so wichtig? Ist dir das Geld, das du dabei verdienst, wichtiger als dein Leben?«
»Es ist also wirklich wahr, dass euer Blickfeld so beschränkt ist.« Azriel amüsierte sich scheinbar köstlich. »Für euch muss alles logisch erklärbar und nachvollziehbar sein, jeder muss an seinem Handeln etwas verdienen, nicht wahr? In dieser Geflügel schule haben sie euch allen das Gehirn rausgepustet.«
Entsetzt sah ich ihn an. »Woher weißt du von der Akademie?«
»Ich habe doch gesagt, ich bin dir ein paar Jahre voraus.«
Eigentlich war die Akademie ein gut gehütetes Geheimnis von uns Unsterblichen, undich konnte mir überhaupt nicht erklären, warum so ein dreckiger Dämon darüber Bescheid wusste. Aber es spielte auch keine Rolle mehr. Er hatte mich innerhalb weniger Sekunden entwaffnet, ohne irgendwelche Mühe, und das hieß, dass ich wohl jetzt durch seine Hand sterben würde. Ich hatte keine wirkliche Angst davor, aber mein Innerstes brodelte noch immer. Warum gerade er?
Azriel sah mich eine Weile an, als würde er meinen Gedankenkampf verfolgen. Dann zog er die Mundwinkel wieder leicht nach oben und winkte ab. »Gut, meine Warnung hast du bekommen und ich hoffe, du nimmst sie dir zu Herzen. Du weißt, was sonst passiert. Man sieht sich.«
Er drehte sich um und war offensichtlich bereit dazu, zu gehen. Etwas erschrocken machte ich einen Schritt nach vorn und brüllte ihn an: »Was soll das, machst du dich lustig über mich? Du hast gewonnen, also wenn du mich töten willst, dann tu es jetzt!«
Der Dämon blieb stehen, drehte sich zurück und warf mir einen missbilligenden Blick zu.»Glaub mir, das würde ich. Aber ich habe nicht die geringste Lust, dich zu töten. Ich verspüre im Moment nicht die geringste Lust, überhaupt irgendjemanden zu töten.« Wieder drehte er seinen Kopf weg, als würde er sich vor meinen Worten ekeln. Über seine Schulter warf er mir noch ein paar Worte zu: »Was dir in deiner Geflügel-Akademie gesagt wird, entspricht nicht immer ganz der Wahrheit. Vielleicht solltest du damit anfangen, auch andere Quellen zurate zu ziehen.«
Und bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, war er verschwunden.
Mit großen Augen stand ich da und starrte auf die Stelle an der er gerade noch gestanden hatte.
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