Der Weg des Unsterblichen
eins seiner Leben geschenkt. Sein letztes.«
Auf diese Weise hatte ich es noch gar nicht betrachtet. War das der Grund, warum er keine Angst vor dem Tod gehabt hatte? War das der Weg, auf die man zufrieden sterben konnte, wenn man sein Leben an jemand anderes verschenkte? Trotz der Situation schlich sich ein leichtes Lächeln in meine Mundwinkel. »In dem Fall werde ich sein Geschenk nicht vergeuden.«
Als wir durch das große Tor am Ende der Eingangshalle schritten, breitete sich eine riesige Steinbrücke vor uns aus, unter ihr ein schier unendlicher Abgrund zu liegen, über dem dichter, schmutziger Nebel hing. Der Himmel war wie immer nachtschwarz und von Millionen Sternen bedeckt. Und am Ende der Brücke ragte ein Gebäude in die Luft, das an eine alte Burg der Menschen erinnerte. Über dem Eingangstor befand sich eine Terrasse, und ich wusste, was hinter ihren gläsernen Türen lag, ich konnte das Licht sehen. In mir stieg Wut auf, unbändige Wut auf jede einzelne Person in diesem Raum.
»Aniguels Sohn!« Die Stimmen um uns herum wurden laut. Am Aufgang zur Brücke standen vier Soldaten, die Münder weit geöffnet und die Waffen auf halber Höhe.
Ich blickte ihnen entgegen und ich wusste, dass das Funkeln in meinen Augen vernichtend war, denn sie zuckten allesamt zusammen. »Ich will zu meinem Vater. Hat irgendjemand hier ein Problem damit?« Mit der Hand, an der nicht Noé hing, zog ich meine silbern glänzende Waffe und richtete sie auf die Männer. »Falls nicht, dann tretet mir auf der Stelle aus dem Weg und lasst uns passieren. Falls doch, sehe ich mich gezwungen, einen kleinen handgreiflichen Streit anzufangen und ihr werdet keine andere Wahl haben, als mich zu töten, um mich zur Ruhe zu bringen. Und ich bezweifle, dass mein Vater darüber erfreut wäre.«
Die Wächter warfen sich einen kurzen, unsicheren Blick zu, aber ich wusste, dass sie keine andere Wahl hatten. Niemand von ihnen wollte die Wut meines Vaters auf sich ziehen.
»Nero, was ist in dich gefahren? Was soll der Aufstand?« Einer der Männer umklammerteseine Waffe noch immer, auch wenn er sie bereits in Richtung Boden gesenkt hielt. »Was hast du vor?«
»Wie du vielleicht sehen kannst bin ich wirklich unglaublich wütend. Ich will und werde mit meinem Vater reden, also geht mir endlich aus dem Weg .« Nach den letzten gebrüllten Worten senkte ich meine Stimme schnell wieder, versuchte die unendliche Wut in meinem Bauch zu unterdrücken und wieder Herr meiner Sinne zu werden. »Geht. Oder glaubt ihr nicht, dass ich es tun werde?« Ich nickte in Richtung der Waffe, die noch immer in meiner Hand lag und deren Lauf auf die Männer gerichtet war.
Doch, das taten sie. Ob aus Angst vor mir oder aus Angst vor dem Zorn meines Vaters, die Männer traten auseinander und machten den Weg frei.
Ich griff wieder nach Noés Hand und zerrte sie über die steinerne Brücke, auf den Sitz des Magistrats zu. Die ganze Zeit über konnte ich die Blicke der Männer in meinem Rücken spüren, ihre Ungläubigkeit und Angst hing fast greifbar in der Luft.
An der Tür hatte sich meine Wut bereits so sehr angestaut, dass ich sie mit einem Tritt öffnete und das Holz unter meiner Kraft splitterte wie ein dünner Zahnstocher. Die Unsterblichen, die im Inneren an einem grün bespannten Tisch gesessen und Karten gespielt hatten, sprangen sofort auf die Beine und starrten mich erschrocken an.
Auch das Innere des Magistratssitzes war an Prunk nicht zu übertreffen. Die Wände waren mit dunkelroten Seidenvorhängen und Ölgemälden behangen, über die weiße Marmortreppe war ein goldener Teppich drapiert. Wie hatte ich als Kind diese Pracht bewundert, wie gern war ich mit den Fingern die glänzenden Diamanten nachgefahren, die als Dekoration in die schimmernden Holzwände eingelassen waren. Doch jetzt kam mir das Innere dieses Hauses auf einmal leer vor. Unnötig. Tot.
Wortlos, immer noch die Pistole in der einen Hand und Noé an der anderen, fegte ich an den zusammenzuckenden Wachen vorbei. Ein eiskalter Blick in ihre Richtung reichte. Ja, den hatte ich von meinem Vater geerbt, genau wiemein unbeugsames Auftreten, und niemand traute sich mehr, uns in den Weg zu treten. Gefolgt von den Blicken zahlreicher Unsterblicher stapften wir die glatte Marmortreppe nach oben. Niemand hielt uns auf. Was sie wohl dachten, was ich vorhatte? Warum ich so wütend war? Egal was es war, sie hatten nicht die leiseste Ahnung.
Die kleine Halle, in der sich der Magistrat immer traf,
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