Der Weg des Unsterblichen
Zeit, dir die wahre Geschichte zu erzählen, die uns damals in die Menschenwelt trieb.” Schwungvoll nahm er auf einem der roten, steif wirkenden Sessel Platz und schlug die Beine übereinander, die in silbern glänzenden, kniehohen Stiefeln steckten. Von dem kleinen,antik wirkenden Beistelltisch nahm er ein Glas, das zur Hälfte mit Rotwein gefüllt war und hob es spöttisch in meine Richtung, bevor er es an den Mund setzte.
Mir war flau im Magen und ich drückte die Hände zu Fäusten zusammen. “Was soll es da zu erzählen geben? Ihr habt die Menschenwelt betreten, um den Menschen zu helfen!”
Ein ungläubiges Glucksen kam von ihm. Er stellte das Glas wieder ab und bedachte mich mit einem eiskalten Lächeln, das mir die Eingeweide einzufrieren schien. Einen Moment dachte ich an Azriels Worte. “Und, glaubst du das?” Ich holte rasselnd Luft. “Vater…”
Er fixierte lächelnd einen unsichtbaren Punkt in der Luft. “Es ist tausend Jahre her, aber ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Endlich hatten wir es geschafft, ein Portal zur Menschenwelt zu schaffen, endlich hatten wir die Möglichkeit, aus unserem Leben auszubrechen.” Gedankenverloren schnippte er mit dem Finger gegen das Glas, das ein leises Klirren von sich gab. “Du musst wissen, dass Asytrum wunderschön ist. Die perfekte Welt, umaufzuwachsen, die perfekte Welt für alles und jeden. Aber irgendwann ist die Perfektion nicht mehr genug, Nero, irgendwann will jeder ausbrechen und seinen eigenen Weg gehen.”
Verständnislos zog ich die Augenbrauen zusammen und konnte das eisige Gefühl nicht länger unterdrücken, dass in meinem Magen aufsteigen wollte. “Willst du damit sagen, dass ihr Asytrum verlassen habt, weil euch langweilig war?”
Sein kaltes Lachen deutete ich als ein Ja. Ich konnte einfach nicht fassen, was ich hier hörte. Das musste ein Scherz sein.
“Wenn man glaubt, alles zu haben – und das hatten wir lange Zeit geglaubt, als wir noch in Asytrum lebten – setzt man sich entweder zur Ruhe und genießt ein Leben wie im Bilderbuch … oder man sucht sich etwas Neues, nach dem man streben kann.” Vater warf mir einen fast milden Blick zu. “Macht. Alles was uns fehlte, was dem einzelnen Individuum unter uns Unsterblichen fehlte, war es, Macht über etwas zu auszuüben. Und was denkst du, eignet sichdafür besser, als ein Haufen niedriger Wesen, die uns als göttlich gesandte Kreaturen behandeln?”
Ich fühlte mich in meinen Grundfesten erschüttert, auf einmal schien mein ganzes Leben nur aus Lügen zu bestehen. “Ihr habt sie gerettet, weil ihr Macht über euer eigenes, menschliches Puppenhaus haben wolltet?”
“So könnte man es betrachten.” Vater schien belustigt über meinen Vergleich. Er hatte das Glas wieder in die Hand genommen und drehte es vor seinen Augen, als wäre es etwas unwahrscheinlich Wertvolles. “Eigentlich wollten wir sie mit Asytrums Ressourcen retten, aber die Regierung hat nicht mitgespielt. Sie haben unsere Pläne durchschaut, sie wussten dass wir es darauf angelegt hatten, Gott zu spielen. Also haben sie uns in dieses Exil hier geschickt.” Vater breitete seine Arme aus, als würde er über ein Königreich sprechen.
Ich wollte ihm in diesem Moment am liebsten an den Kopf werfen, dass er mich die ganze Zeit angelogen hatte, als ich auf einmal eine dünne Stimme hinter mir hörte: “Ich verstehe nicht-”
Ich fuhr herum. Noé. Beinahe hätte ich vergessen, dass sie da war. Sie hielt die Arme um ihren Körper geschlungen, ihre bunten Augen sahen so verwirrt aus, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Erneut holte ich tief Luft, versuchte die Wut aus meiner Stimme zu verbannen. “Asytrum ist die Welt der Unsterblichen. Die Heimat von unseresgleichen, die neben der Menschenwelt existiert. Mein Vater –”, ich spuckte die Worte aus wie einen geschmackslosen Kaugummi und fuhr mit dem Kopf wieder zu ihm herum. “- hat mir gesagt, dass er und die anderen Asytrum verlassen mussten, weil es verboten war, andere Welten zu betreten.”
“Oh, damit habe ich auch nicht gelogen. Die Legende besagt, dass Menschen, Dämonen und Unsterbliche mit Gott einen Pakt schlossen, der sie auf ewig dazu verpflichtete, die Grenzen zwischen den Welten unberührt zu lassen.” Mein Vater schien sich köstlich zu amüsieren. Er nahm den letzten Schluck von seinem Wein und lehnte sich dann in seinem Sessel nach vorn. “Aber noch mehr hatte die Regierung Angst davor, waswir mit den Menschen
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