Der Weg des Unsterblichen
meinen Kopf langsam zu einem Nicken bewegte. In der gleichen Sekunde rutschte sie in sich zusammen und presste sich die Hände aufs Gesicht. »Nein, das kann nicht wahr sein! Das kann ich nicht glauben, er kann nicht für immer weg sein, du lügst !«
Aus irgendeinem Grund verstand ich ihren unglaublichen Schmerz. Aber wenn sie weiter soschrie, würden gleich sämtliche noch verfügbaren Wachen angerannt kommen.
»Noé, bitte, du musst dich beruhigen, wir müssen hier weg!« Ich zog an ihrem Arm, versuchte sie wieder auf die Beine zu bringen, aber es half nichts. Sie machte sich schwer wie ein nasser Sack.
»Warum sollen wir wegrennen? Es bringt doch eh nichts!« schrie sie, und ruckartig zuckten ihre mit Tränen gefüllten, bunten Augen nach oben, suchten meinen Blick. »Ich bin doch eine Hochverräterin in euren Augen! In einer Stunde haben sie mich wieder eingefangen und weggesperrt. Verstehst du denn gar nichts, Nero? Es wird sich nichts ändern!«
Zum zweiten Mal in dieser Nacht traf mich der Satz wie ein heißes Gusseisen direkt ins Gesicht. Ja, Azriel hatte recht gehabt und genau so hatte auch Noé recht damit. Was sollte ich schon tun, um den Lauf der Dinge ändern? Gemeinsam mit Noé abhauen, so wie Azriel es geplant hatte? Nein, das konnte ich nicht. Ich konnte diesen Ort nicht tatenlos verlassen. Ich war nun einmal kein Dämon, der sorgenlos alleshinter sich lassen und irgendwo anders neu anfangen konnte. Ich war ein Unsterblicher. Das Weglaufen hatte ich nicht perfektioniert, dafür aber etwas anderes: Zu bleiben und zu kämpfen.
Langsam hockte ich mich vor Noé hin und drückte ihre Hände, damit sie mich wieder ansah. Dann sprach ich ruhig auf sie ein: »Hör mir jetzt bitte gut zu, ok? Ich weiß, dass dieser Verlust dir unendlich wehtut und ich wahrscheinlich momentan nicht einmal einen Zehntel des Schmerzes fühle, den du ertragen musst…«
»Du?« Sie schluchzte, und ich nickte. »Ja. Hör zu, ich habe deiner Mutter und Azriel versprochen, dass ich auf dich aufpasse und dafür sorge, dass du sicher nach Hause kommst, und ich habe nicht vor, dieses Versprechen zu brechen. Als Erstes muss ich dir hier rausbringen, aber dann werde ich sofort zu meinem Vater gehen und mit ihm sprechen. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich nicht zulassen werde, dass sich wieder nichts ändert!«
Eine Weile starrte sie mich erschrocken an, dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Nein!« Ein Schluchzen kam aus ihrem Mund. »Bitte, dudarfst mich nicht allein lassen, Nero! Wenn du mich allein lässt und dir auch noch etwas passiert, dann habe ich niemanden mehr, dem ich vertrauen kann!«
»Er ist mein Vater und ich kenne ihn. Mir wird er sicher nichts tun.« Ich packte sie wieder an den Schultern. »Ich muss es versuchen.«
»Dann komme ich mit dir!«
»Das ist zu gefährlich.«
»Ich dachte, dein Vater würde dir nichts tun?«
Touché. Ich presste die Zähne zusammen. Verdammt. Aber an ihrem Blick konnte ich sehen, dass es wahrscheinlich ohnehin gefährlicher für sie war, jetzt allein zu sein. Noé war völlig am Ende, Azriels Tod hatte sie härter getroffen als alles, was ich ihr in diesem Moment hätte antun können. Oder mein Vater.
»Ok.« Ich nickte. »Aber versprich mir, dich keinen Millimeter von mir zu entfernen, bevor ich dir nicht ein Zeichen dazu gebe, klar? Wir müssen unbedingt zusammen bleiben.« Mit etwas Kraft zog ich sie auf die Beine zurück und sah sie ernst an. »Komm, Noé, bereiten wir diesem Mist endlich ein Ende.«Langsam schritten wir durch den Vorraum des Kerkers, die Treppe hinauf und durch die Eingangshalle. Als Noé die Leichen sah, zuckte sie zusammen und krallte sich noch fester in meinen Arm hinein. Sie unterdrückte ein Würgen, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Azriel hatte wirklich saubere Arbeit geleistet.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie neben mir. Was genau wollte sie wohl hören?
»Wir waren schon fast im Kerker, da wurden wir von einem Unsterblichen überrascht. Er und der Pförtner haben auf uns geschossen. Azriel hat mich vor den Kugeln von hinten abgeschirmt und wurde deshalb getroffen.« Es schnürte mir die Kehle zu. Es war meine Schuld. Wenn ich nicht gewesen wäre… Wenn ich nur etwas vorsichtiger, aufmerksamer gewesen wäre…
»Das klingt nach ihm.« Ihr Griff an meinem Arm wurde stärker, und sie schluchzte noch einmal. »Du hast also das gleiche Geschenk von ihm bekommen wie ich so unzählige Male.«
»Geschenk?«
Sie nickte. »Er hat dir
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