Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
herumführen und ihr beibringen sollen, wie sie ihren Uniformrock kürzen konnte– aber das Wissen erstickte das Gespräch wie eine Decke.
» Ich komme schon allein zurecht.« Con entzog ihrer Mutter die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust.
» Constance«, sagte Evangeline, » handle nicht so übereilt. Du weißt nie, woher Hilfe kommen mag oder wann du sie vielleicht brauchst.«
» Egal.« Sie marschierte aus dem Zimmer, und Mrs. Grey folgte ihr besorgt. Onkel Billy trat beiseite, um sie durchzulassen.
» Armes Würmchen«, sagte er und schüttelte den Kopf. Er tätschelte mir den Arm und schenkte Evangeline ein trauriges Lächeln. » Mein Beileid. Verity war ein ganz besonderes Mädchen.«
» Ja. Das war sie.«
» Bleiben Sie lange in der Stadt?«, fragte er. Es war ein als höfliches Gespräch getarntes Verhör. Ich beschäftige mich mit dem, was alle anderen beschäftigt, pflegte er zu sagen.
Evangeline neigte den Kopf zur Seite; ihre Augen funkelten und waren scharf wie die eines Vogels. » Bis hier alles geregelt ist. Ich habe meinen Laden in Louisiana auf unbestimmte Zeit geschlossen.«
Onkel Billy nickte. » Das ist einer der Vorteile, wenn man sein eigener Chef ist, das habe ich schon immer gesagt.«
» In der Tat.« Sie hielt ihre Kaffeetasse vor sich und sagte sonst nichts mehr. Die Stille wurde vom Klappern des Bestecks auf den Tellern und den undeutlichen Stimmen der Mitglieder des Damenkreises in der Küche durchbrochen, die das Geschirr abschabten und spülten.
Onkel Billy schien damit zufrieden zu sein, an meiner Seite zu bleiben. Das war Pech. Ich hatte nicht vorgehabt, in seiner Anwesenheit den entscheidenden Schritt zu tun, aber es schien keine andere Möglichkeit zu geben.
» Äh… Evangeline? Ich habe ein paar Sachen hier liegen lassen. In Veritys Zimmer. An dem Abend.« Eigentlich war das keine Lüge. Meine Tasche mit meiner Kamera, meiner Zahnbürste, Make-up und vor allem dem Aufsatz, den ich für meine NYU -Bewerbung schrieb, lag noch in Veritys Zimmer. » Ich brauche das eigentlich alles, bevor die Schule wieder losgeht. Wäre es in Ordnung, wenn ich kurz hochgehen und es holen würde?«
Hoffentlich würde sie die Tatsache, dass mir die Hände und die Stimme zitterten, auf die Umstände dieses Tages zurückführen, aber Onkel Billy ließ sich nicht täuschen. Er zischte, so leise, dass ich es kaum hörte, ließ aber meinen Arm los und nahm die Kerzen auf dem Kaminsims in Augenschein.
Evangeline schürzte die Lippen, warf einen Blick durch die Tür, durch die Con und ihre Mutter gegangen waren, und nickte ein einziges Mal. » Du kennst den Weg, nicht wahr?«
Ich war diese Treppe schon unzählige Male hinaufgestiegen. Ich hätte es mit verbundenen Augen tun können. Die goldenen Eichenstufen hinauf, mit schweren Schritten, sogar in den schwarzen Ballerinas. Vorbei an den Porträtfotos: Verity und Con als grinsende Babys, pausbäckige Kleinkinder, kleine Mädchen mit Zahnlücken und als Teenager. Anders als auf dem Kaminsims voller Schulbilder bei mir zu Hause gab es keine peinlichen Bilder von Verity im Übergang zwischen Kindheit und Jugend, da sie die Phase komplett übersprungen hatte. Das wäre nervig gewesen, wenn sie nicht meine beste Freundin gewesen wäre. Eigentlich war es trotzdem irgendwie nervig…
Es waren auch Bilder von Con dabei, immer die kleine Schwester, die hinterherzockelte. Ich erinnerte mich plötzlich, wie wir mit ihr zusammen mit Barbies gespielt hatten, und daran, wie Con sich nie beschwert hatte, wenn wir ihr die Puppen mit den schlechten Frisuren oder komisch abgeknickten Beinen gegeben hatten. Sie war einfach froh gewesen, dass Verity sie mitmachen ließ. Jetzt würde es keine neuen Bilder von Verity mehr geben, und Con war nicht mehr die kleine Schwester.
Ich musterte auch die Familienporträts und rechnete schon mit dem Fünkchen Neid, das immer in mir aufkeimte, wenn ich sie sah. Es war nie stark genug, mich innehalten zu lassen, und Verity hatte nie etwas dazu gesagt, aber es war immer da. Ein kleines Zusammenziehen meiner Eingeweide bei dem Anblick, wie sie Jahr für Jahr zusammenstanden, eine gefestigte, lächelnde Familie. Auch solche Bilder hatten wir bei mir zu Hause nicht. Es ist schwer, durchs Panzerglas im Gefängnis ein gutes Weihnachtsbild zu machen.
Vor Veritys Zimmer blieb ich mit der Hand auf dem gläsernen Türgriff stehen; meine Handfläche war schweißnass, mein Atem ging flach. Furcht würde mir jetzt nicht helfen.
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