Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
Verity zu vermissen auch nicht. Ich brauchte Informationen, und das war meine größte Chance, an sie zu kommen. Ich öffnete die Tür und ging hinein.
Veritys Geruch– Zitronenkerzen und teures Shampoo– schlug mir entgegen. Ich atmete so tief ein, wie ich konnte, und kniff die Augen zu. Sie begann bereits vor meinem inneren Auge zu verblassen, aber der Geruch ließ sie mit Macht zurückkehren, und mit ihr Millionen von Erinnerungen. Ich konnte nicht glauben, dass ich so viel in so kurzer Zeit vergessen hatte.
Sorgfältig schloss ich die Tür hinter mir und drehte eine Runde durch den Raum. Türkisblaue Wände, weiße Möbel, eine schokoladenbraune Daunendecke auf dem Bett. Es war dasselbe vollgestellte, gemütliche Zimmer, das wir an jenem Abend verlassen hatten. Ich ließ ihre Windspiele gegeneinander klingen und brachte sie dann mit einer Berührung zum Schweigen.
Veritys Schreibtisch war immer noch mit Zeitschriftenstapeln, Mix- CD s, Musiknoten mit ihren daraufgekritzelten Notizen und Theaterprogrammen von Stücken, die wir gesehen hatten, übersät. Dazwischen befand sich ein leeres Rechteck, wo ihr Laptop gestanden hatte. Die Polizei hatte ihren Computer mitgenommen. Wenn sie ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatte, waren sie für mich jetzt verloren.
Aber ich wusste, dass Verity nichts Versteckenswertes auf ihrem MacBook gespeichert hätte, nicht, wenn Con sich hereinschleichen und es finden konnte. Ihre Fähigkeit, Passwörter zu erraten, war mehr als lästig– sie war ehrfurchtgebietend. In zehn Jahren würde sie wahrscheinlich die NSA leiten. Es war ein Wunder, dass Verity und ich angesichts ihrer Schwester und meiner Mutter überhaupt Geheimnisse hatten. Zumindest hatte ich das immer geglaubt.
Denk nach. In wenigen Minuten würde jemand kommen und nach mir suchen, und dann würde die Gelegenheit vorbei sein. Ich drehte mich langsam im Kreis, versuchte, irgendetwas zu sehen, etwas, das fehl am Platz war, etwas Neues, etwas aus den Sommerferien. Etwas, das nicht ins Muster der Verity, die ich gekannt hatte, passte. Das Mädchen, das in dem Durchgang gestorben war, hatte ich, wie mir bewusst zu werden begann, überhaupt nicht gekannt.
Auf der Fensterbank stand zusammengesunken meine triste, olivgrüne Kuriertasche. Ich sah sie kurz durch, um sicherzugehen, dass die Polizei nicht versehentlich etwas von meinen Sachen mitgenommen hatte, und schlang sie mir dann über die Schulter, während ich weitersuchte. Nichts war auffällig, aber alles im Zimmer fühlte sich leicht verändert an, als wäre es ein paar Zentimeter nach links verrutscht, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war.
» Freust du dich, wieder hier zu sein?«
Verity zuckt mit den Schultern. » Klar.« Sie wirkt irgendwie seltsam. Verlegen.
» War es in New Orleans total bescheuert?«
Sie zuckt erneut mit den Schultern und wälzt sich auf dem Bett herum, starrt an die Decke hoch. » Nicht total.«
» Sexy Jungs?«
» Ich glaube schon.« Sie richtet sich auf, schlägt die Beine in den Lotussitz. » Die Architektur ist unglaublich, Mo. Vieles davon ist jetzt zerstört, aber was im Garden District noch steht, ist wunderschön. Und die Musik ist wahnsinnig gut.«
» Na, hast du Perlen bekommen?«, necke ich sie. » Weißt du, ich habe gehört, was man tun muss, um welche zu kriegen.«
Sie wirft ein Kissen nach mir, lacht, rückt ein Stück weiter und lässt sich kopfüber von der Bettkante hängen. Ihr Haar fächert sich auf, strahlend golden vor der dunklen Daunendecke. Sie wirkt nervös, ruhelos und geistesabwesend. Jedes Mal, wenn ich sie frage, was nicht stimmt, lächelt sie, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.
Sie steht auf und geht zum Bücherregal, sieht sich die Schneekugel an, die sie mitgebracht hat.
» Ich habe dich wirklich vermisst«, sagt sie nach einer Minute. Sie kippt die Kugel um und richtet sie wieder auf. » Weißt du, es war nicht meine Idee.«
» Klar«, sagte ich. » Ich weiß. Aber wen stört das schon! Du bist wieder zu Hause. Alles wird wieder so wie vorher.«
Verity öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn dann wieder und sieht beiseite. » Klar.«
» Abgesehen davon, dass wir jetzt in der zwölften Klasse sind. Das ist das beste Schuljahr überhaupt, das sag ich dir!«
Sie antwortet eine ganze Weile nicht, tippt nur sanft gegen die Schneekugel und starrt sie an. » Lass uns Eis essen gehen. Ich zerfließe!«
» Du hast die Hitze mitgebracht.«
» Ja«, sagt Verity. » Das muss es
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