Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
hast sie auch gesehen, das weiß ich!« Ich wehrte mich gegen ihn und versuchte, mich zu befreien.
Er schüttelte den Kopf; sein Griff war eisenhart. » Da ist niemand.«
Ich erstarrte. » Was? Doch, da ist jemand! Sieh doch!«
Ich riss mich los und raste um die Ecke des Mausoleums. Die Sonne funkelte gleißend hell auf den weißen Marmorwänden und blendete mich. Als die Pünktchen verschwanden, stand Luc mit angespannter, grimmiger Miene neben mir.
» Siehst du jetzt noch irgendjemanden?«, fragte er.
Er hatte recht– der Teich war still, und es war niemand in Sicht, weder jemand in Roben noch sonst irgendetwas. Der Wald war dunkel und ruhig, und die Luft flirrte in der Mittagshitze.
» Ich habe sie gesehen. Das habe ich.« Ich rieb mir verwirrt die Stirn.
Er legte mir einen Arm um die Taille und führte mich den Hügel hinab. » Wenn du ständig Dinge siehst, die nicht da sind, Mouse, dann werden sie dich irgendwann ihrerseits sehen. Und glaub mir, das willst du nicht.«
» Du hättest mich gehen lassen sollen.«
» Warum? Hier gibt es nichts, was dich etwas angeht.« Er blieb stehen. » Wenn du etwas gesehen hast– und lass uns völlig klarstellen, du hast ganz bestimmt nichts gesehen–, aber wenn du etwas gesehen hast, dann waren es vielleicht die Guten. Ihre Leute. Und vielleicht sind sie gekommen, um Abschied zu nehmen. Es wäre nett, wenn du das respektieren könntest. Jeder sollte Gelegenheit bekommen, Abschied zu nehmen.«
» Hattest du eine?«, fragte ich gedankenlos.
Er hielt inne. » Nicht so, wie ich sollte.«
» Warum?«
Er zog eine Augenbraue hoch. » Etwas ist dazwischengekommen.«
Etwas, das ich war. Kein Wunder, dass er so wütend gewesen war, als ich darauf bestanden hatte, dass wir uns unterhielten. Wir gingen weiter in den Friedhof hinein, wo die Bäume riesenhaft und knorrig vor Alter waren. » Du hast gesagt, sie wären die Guten. Gibt es auch Böse?«
» Es gibt immer Böse. Weißt du das nicht mittlerweile?«
» Was von beidem bist du?«
Er blickte mich eindeutig gekränkt an. » Kannst du das nicht sehen?«
Ich warf gereizt die Hände in die Luft. » Du willst mir nicht helfen. Du willst mir nichts Nützliches sagen.«
» Nützlich in welcher Hinsicht genau? Das, worin Verity verstrickt war… Du hast doch gesehen, wie gefährlich es ist. Du wirst noch ums Leben kommen.«
» Das ist mir gleichgültig.« Die Worte entschlüpften mir, bevor ich sie aufhalten konnte.
» Das sollte es aber nicht sein«, sagte er mit fester Stimme. » Lass es auf sich beruhen, Mouse. Das hier ist nichts für dich.«
» Was soll das denn nun wieder bedeuten?«
» Es bedeutet, dass du ein braves Mädchen bist. Geh aufs College. Heirate einen braven Jungen. Bekomm ein paar brave Kinder und lebe ein braves, ruhiges Leben in der Vorstadt. Wenn du dich jetzt nicht weiter einmischst, kannst du das alles noch haben. Du kannst jedes Leben haben, das du gern haben möchtest, und das ist verdammt noch mal ein Segen.«
Ich stieß ihn von mir. » Ein Segen? Ich habe meine beste Freundin sterben sehen. Was zur Hölle ist daran so gesegnet?«
Der Blick, mit dem er mich bedachte, war kalt und verächtlich. » Du hast überlebt. Ist das nicht genug?«
» Nein. Nicht ohne sie.« Ich spürte, wie mir die Tränen kamen, bestürmte ihn aber weiter: » Verstehst du denn nicht? Ich würde alles tun, um sie zurückzubekommen. Alles. Das ist unmöglich, ich weiß. Aber sie ist nicht mehr da, und ich muss… ich muss es ihr gegenüber wiedergutmachen.«
» Hör auf zu weinen«, sagte er, aber in seinem Ton lag Mitgefühl. » Es war nicht deine Schuld.«
Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab. » Das weißt du nicht.«
» Natürlich weiß ich das.« Er hob mein Gesicht zu seinem hoch. Aus der Nähe funkelten seine Augen wie goldgesprenkelte Jade. Es war schwer, noch irgendetwas anderes wahrzunehmen, wenn er mich so ansah. » Verity war dazu bestimmt, Großes zu leisten, und die Leute, die das hier getan haben… sie wollten sie davon abhalten, es zu tun. Sie tragen die Schuld daran, nicht du.«
Er versuchte, dafür zu sorgen, dass ich mich besser fühlte, aber ich benötigte Hinweise, kein Mitleid. » Dann sag mir, wer es ist. Bitte. Nur einen Namen, das ist alles. Du musst mir helfen.«
» Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die ich tun muss, aber dir zu helfen gehört nicht dazu. Außerdem hast du selbst im Augenblick nicht viel zu bieten.« Er musterte mich abschätzig, bevor er sich zum
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