Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
fuhren. » Wenn du weiter so davonspazierst, Mo, müssen wir besser auf dich aufpassen.«
Meine Mutter nickte mit Nachdruck. Wenn Onkel Billy vorgeschlagen hätte, dass wir einen unsichtbaren Zaun ums Haus ziehen sollten, hätte sie mir noch vor Ende des Tages Halsband und Leine verpasst. Ich ließ mich in meinen Sitz zurücksinken, und wir schwiegen alle, bis wir das schöne Präriestil-Haus der Greys erreichten.
Es strömten ständig Menschen heraus und hinein, und so gingen wir unaufgefordert ins lichtdurchflutete Wohnzimmer. Beinahe sofort war mein Onkel von Leuten aus der Nachbarschaft umgeben, denen es um seinen Rat oder seine Gunst ging. Es war immer so, ob nun sonntags in der Kirche oder am Freitagabend im Black Morgan’s. Onkel Billy kannte alles und jeden in unserem kleinen Winkel der Stadt. Er würde auch in einer Million Jahren noch nicht auf Facebook sein, aber er hatte trotzdem Anschluss.
Währenddessen ging meine Mutter mit den Kuchen, die sie mitgebracht hatte, geradewegs in die Küche und stieß zum Rest des Damenkreises, der Schinken, Aufläufe und Kartoffelsalat bereitstellte. Leute drängten sich um mich, und ihr Gemurmel war wie ein Ozean der Trauer. Bis auf den ein oder anderen mitleidigen Blick blieb ich mir selbst überlassen, was mir sehr zupasskam. Pater Armando fing von der anderen Seite des Zimmers her meinen Blick auf, und ich duckte mich, bevor er zu mir herüberkommen und mir noch einmal versichern konnte, dass unser Glaube uns in dieser schwierigen Zeit aufrecht halten würde.
In Veritys Haus zu stehen war schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich sah sie in jeder Ecke– wie sie auf der Sofakante lümmelte, im gewaltigen Steinkamin herumstocherte oder mit einer Schüssel Popcorn ausgestreckt auf dem Boden lag, während wir uns schlechte Reality- TV -Sendungen ansahen. Ich presste mir die geballten Fäuste in den Bauch, versuchte, ihn zusammenzuhalten, und zwang mich, an meine Mission hier zu denken, an etwas Greifbares, das ich tun konnte, um Verity zu helfen.
Die angespannte, stumme Fahrt vom Friedhof hierher hatte mir Zeit zum Nachdenken verschafft, dazu, Lucs Worte auf eine Art und Weise zu analysieren, zu der ich anscheinend nicht in der Lage gewesen war, als er direkt neben mir gestanden hatte. Ich wollte Antworten, und er hatte mich stattdessen mit Philosophie und Warnungen abgespeist. Aber er hatte auch Fragen, und sie waren die einzigen Hinweise, an die ich mich halten konnte. Verity hatte etwas aus den Sommerferien mitgebracht, mehr als Sonnenbräune und die Entscheidung, unsere Collegepläne in den Wind zu schießen. Was es auch war, Luc wollte es haben. Wenn ich seine Hilfe wollte, musste ich es finden.
Ich versuchte, ganz zwanglos zu wirken, und drängte mich ins Nebenzimmer durch, um nach Veritys Mutter zu suchen. Sie stand neben dem großen Ziegelkamin und umklammerte Cons Hand. Evangeline sprach in leisem, beruhigendem Ton auf die beiden ein. Con nickte aus reiner Gewohnheit, aber man sah ihr an, dass sie eigentlich nichts hörte.
Es war lausiges Timing, und überhaupt lausig, so etwas zu tun, aber es ging nun einmal nicht anders. Ich straffte die Schultern und trat vor.
» Hallo, Mrs. Grey. Hallo, Con.«
Cons Kopf schoss hoch, und ihre Miene verzerrte sich eine Sekunde lang zu etwas Hässlichem, Scharfem, bevor sie sich wieder in Ausdruckslosigkeit zurückzog. Ich biss mir auf die Lippen, sah beiseite und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.
» Mo«, sagte Evangeline, » wir haben gerade über das kommende Schuljahr gesprochen. Du bist doch jetzt in der zwölften Klasse, nicht wahr?«
Ich nickte, dankbar für den Versuch, Normalität herzustellen. Con wandte den Kopf zum Kamin.
» Mo ist eine sehr gute Schülerin«, warf Mrs. Grey ein; ihre Stimme war dünn und flaumig wie Baumwolle. » Sehr fleißig.«
Ja. So war ich. Fleißig und langweilig, wenn ich nicht gerade vorhatte, etwas aus dem Haus meiner besten Freundin zu stehlen.
» Und deine Hobbys?«
Ich begehe Verbrechen? » Fotografieren. Ich bin dieses Jahr eine der Chefredakteurinnen der Schülerzeitung und ich mache auch viele Fotos für sie. Ich spiele Fußball.«
» Nur in der B-Mannschaft«, murmelte Con und sah das Kaminsims finster an.
» Wir sind so froh, dass du noch auf der St.-Brigid-Schule bist, Mo, und Con helfen kannst. Sie wird ein vertrautes Gesicht brauchen, um ihr zu zeigen…« Mrs. Grey versagte die Stimme. Niemand sprach das Offensichtliche aus. Verity hätte Con dort
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