Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
vollkommen reglos dastand, verriet mir, dass er aus Erfahrung gelernt hatte, nicht aus Büchern.
Ich musterte ihn, die Muskeln, die sich wie gemeißelt an seinen Unterarmen abzeichneten, und die Art, wie das Hemd sich leicht über seinen Schultern spannte. Seine Hände waren groß und wirkten zupackend, zerkratzt und narbig. Er begegnete meinem Blick, und meine Wangen wurden heiß. Vielleicht hatte ich ihn unterschätzt.
Onkel Billy nickte. » Du kannst dein Leben ganz normal weiterführen, Mo. Er wird dich zur Schule und zur Arbeit bringen, dich nach Hause fahren und dich im Auge behalten, bis abends schön die Bettdecke um dich festgestopft ist.«
Die Röte breitete sich weiter aus. » Mir hat schon seit Jahren niemand mehr die Bettdecke festgesteckt.«
» Egal. Es ist nur für dann, wenn du unterwegs bist. Wenn du Donnelly bei dir gehabt hättest, dann wäre vielleicht…« Er beendete den Satz nicht, und ich korrigierte ihn nicht, obwohl meine Finger das Glas umklammerten, bis meine Knöchel weiß anliefen.
» Das ist albern«, sagte ich. Meine Stimme klang verzweifelt, sogar in meinen eigenen Ohren. » Niemand hat es auf mich abgesehen. Es ist Zeit- und Geldverschwendung. Alle werden ihn bemerken! Wie soll ich das den Leuten in der Schule erklären?«
» Das tust du nicht. Du kümmerst dich hocherhobenen Hauptes um deine eigenen Angelegenheiten.« Er musterte mich mit demselben berechnenden Blick, mit dem er Pferde auf der Rennstrecke einschätzte. » Dein Name ist ja vielleicht Fitzgerald, aber darunter bist du eine Grady, und wir rechtfertigen uns nicht.« Er bekam schon wieder diesen Gesichtsausdruck, der tapferere Leute als mich in Deckung hechten ließ.
» Was ist mit meiner Privatsphäre? Ich will nicht, dass mir jemand folgt und…«
» Es reicht.« Onkel Billy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Besteck hochflog und seine Kaffeetasse auf der Untertasse klapperte. » Deine Mutter ist völlig verängstigt, Maura Kathleen, und dass du bei der Beerdigung verschwunden bist, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich werde nicht zulassen, dass meine Schwester ihre Tage damit verbringt, auf den Anruf zu warten und dann zu identifizieren, was von deinem Körper übrig ist. Bis ich etwas anderes sage, passt Donnelly auf dich auf. Kein Wort mehr über die Angelegenheit.«
Irgendetwas stimmte nicht. Onkel Billy war kontrollversessen, aber das hier wirkte ein bisschen übertrieben, sogar für seine Verhältnisse. Mein Onkel war die Überreaktionen meiner Mutter gewohnt. Aber er redete normalerweise beschwichtigend auf sie ein, beruhigte sie– nur deshalb hatte ich letztes Jahr zum Schulball gehen dürfen. Wenn Onkel Billy jemanden anheuerte, um mich zu beobachten, dann nicht, weil meine Mutter sich Sorgen machte. Er hatte seine eigenen Gründe. Und ich hätte das Trinkgeld eines ganzen Sommers darauf verwettet, dass er sie mir nicht nennen würde.
Während Onkel Billys gesamter Tirade hatte Colin einfach mit den Händen hinter dem Rücken dagestanden, den Blick starr auf den Tisch zwischen uns gerichtet.
» Jetzt schüttelt euch die Hände; sag ihm hallo wie die höfliche junge Lady, zu der du erzogen worden bist.«
Ich zitterte beinahe vor Zorn und Demütigung. Wie konnte er es wagen, mich vor diesem Kerl wie eine Fünfjährige zu behandeln! Aber ich streckte die Hand aus, und Colin ergriff sie für einen Augenblick. Seine Haut schrammte über meine, schwielig und rau. Die Berührung war vorüber, bevor ich damit fertig war zu stammeln: » Freut mich… dich kennenzulernen.«
» Ganz meinerseits.« Eine winzige Grimasse huschte um seinen Mundwinkel, und mir wurde schlagartig eines klar: Colin wollte mich auch nicht lieber bewachen, als ich bewacht werden wollte. Auf eine katholische Schülerin von der South Side aufzupassen, rangierte zweifellos ziemlich weit unten auf dem Bodyguard-Totempfahl.
Ich ließ mich aus der Nische gleiten. » Ich muss los«, sagte ich. » Besorgungen machen.«
» Wir nehmen meinen Truck«, sagte Colin.
» Es ist in der Nähe. Ich kann zu Fuß gehen.«
Er zuckte die Achseln. » Wir können zu Fuß gehen.«
Onkel Billy stand auf, umarmte mich und gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange. Es war seine Art, mich wissen zu lassen, dass der Sturm vorüber war. » Es ist das Beste so, Schatz«, flüsterte er.
Draußen prallten die Hitze und das Licht gegen mich wie eine Mauer, aber ich wurde nicht langsamer.
Colin hielt wortlos mit mir
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