Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
stützte die Ellbogen auf die Knie. Väter kamen von der Arbeit nach Hause, und man konnte hören, wie Leute ihre Mülleimer hereinholten und Kinder in dem Durchgang hinter uns spielten. Fast alle Häuser unseres Blocks waren Einfamilienhäuser, die sich nur in der Ziegelfarbe und in der Dekoration der Vorgärten unterschieden– Gänse in bäuerlicher Kleidung, Windmühlen und der ein oder andere Gartenzwerg. Unser Haus war verblasst orangefarben, mit dunkelgrünen Zierleisten; es war, als würden wir in einem Kürbis leben.
» Ich gehe ihn nicht besuchen.«
» Ich dachte, wir reden nicht miteinander?«
» Tun wir auch nicht. Ich sage ja nur, dass ich meine Gründe habe.«
» Klingt gut.«
» Umgekehrte Psychologie wird nicht funktionieren, das sage ich dir. Sie funktioniert nur, wenn jemand nicht weiß, dass du sie anwendest.«
» Mo«, sagte er müde und wandte mir das Gesicht zu. » Es ist mir scheißegal, ob du deinen Vater besuchst. Es geht mich nichts an, und es ist nicht mein Problem.«
» Was hat Onkel Billy dir über ihn erzählt? Du hast gesagt…«
» Ich habe gar nichts gesagt.«
Das hatte er wirklich nicht. Er hatte zwar irgendwie ein bisschen genickt, aber er hatte sehr darauf geachtet, die meisten Fragen meiner Mutter nicht zu beantworten, auch die nicht. Ich fragte mich erneut, welche Geheimnisse er wohl hatte. » Also weißt du nichts darüber?«
» Herrgott«, murmelte er und blickte zum Himmel. » Ich weiß, was dein Vater getan hat. Weißt du es auch?«
» Ich bin nicht dumm. Ich war zwar erst fünf, als es passiert ist, aber ich kann Zeitungen lesen. Und dieses Ding namens Google? Hast du davon schon mal gehört? Mein Vater hat Geldwäsche für das organisierte Verbrechen betrieben. Dann wurde er gierig und hat auch etwas von meinem Onkel unterschlagen. Jetzt sitzt er im Gefängnis, und meine Mutter versucht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, damit ich ihn besuche.«
Er musterte mich einen Moment lang. » Schön zu hören, dass du schon selbst auf alles gekommen bist. Das erspart mir einige Mühe.«
» Ich mache nie Mühe.«
Colin schnaubte.
» Frag, wen du willst. Ich bin klug und still und nachgiebig. Ich habe einen Einserschnitt und seit der sechsten Klasse nicht mehr gefehlt. Ich bin per definitionem ein sehr braves Mädchen.« Lucs Worte auf dem Friedhof hallten in meinem Kopf wider. Es bedeutet, dass du ein braves Mädchen bist. Lebe ein braves, ruhiges Leben in der Vorstadt. Aus seinem Munde war das eine Abqualifizierung gewesen, nicht das Lob, das ich gewohnt war. Ich zerdrückte die welke Blüte in der Hand.
Colin sah sich nach dem Haus um. » Dieses Abendessen nennst du nachgiebig?«
» Du hast gesagt, du würdest mir keinen Vortrag halten.«
» Keinen Vortrag. Es ist nicht meine Aufgabe, deinen Vaterkomplex zu beheben.«
» Ich habe keinen Vaterkomplex.«
Er blickte mich an, und die Skepsis war ihm deutlich anzusehen.
» Er ist ein schrecklicher Vater. Und Ehemann. Er wollte das schnelle Geld lieber, als er uns wollte. Das ist kein Komplex– das ist eine Tatsache.«
» Eine Tatsache, die dich in Rage bringt. Gut zu wissen.«
» Warum?«
Er sah beiseite, ließ den Blick über die Straße schweifen. » Es ist mein Job, dich zu kennen.«
Klar. Wer hätte mich denn schon kennen wollen, wenn ihm dafür keine Bezahlung winkte? Nicht Luc, der hinter dem her war, was Verity nach Chicago mitgebracht hatte. Und nicht Colin, der sich lediglich wegen meines Onkels für mich interessierte. Nur Verity, und sie war nicht mehr da. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnerte, schien die Welt sich einen Moment lang von ihrer Achse zu lösen. Ich klammerte mich an die Treppenstufe unter mir, bis alles wieder im Gleichgewicht war.
Der Abend war warm, aber angenehm, obwohl ich mir die Vortreppe mit Colin teilen musste. Alles war besser, als im Haus zu sein. Die Sonne begann zu verschwinden, die Straßenlaternen gingen an, und Colins Blick schweifte über die ordentlichen Reihen von Einfamilienhäusern. Eltern riefen ihre Kinder zur Nacht herein, aber ich rührte mich nicht.
Ein heißer Windstoß fegte die Straße hinunter, raschelte in den Blättern und brachte mein Haar in Unordnung. Neben mir veränderte sich Colins Gesichtsausdruck von leicht gelangweilt zu höchst misstrauisch. Er setzte sich auf, und Anspannung knisterte um ihn herum wie statische Elektrizität, die nahe daran war, sich zu entladen. » Hast du die Wahrheit über deinen Freund gesagt?«
» Welchen
Weitere Kostenlose Bücher