Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
eingefüllt worden wäre. Ich schüttelte sie noch einmal. Sie musste doch irgendwann einmal Schnee enthalten haben, oder?
So viele Geheimnisse. So viele Lügen. Ich hatte immer gedacht, es bestünde ein Unterschied zwischen diesen beiden Dingen, aber jetzt schienen sie ineinander überzugehen. Warum hatte Verity mir nicht die Wahrheit über New Orleans gesagt? Es war klar, dass sie mir nur die entschärfte Fassung erzählt hatte. Und der grinsende, schlampig bemalte Harlekin war nicht bereit, mir etwas zu verraten.
Ich konnte meine Mutter die Treppe heraufkommen hören. Ihre Stimme war oberflächlich fröhlich, klang aber abgehackter als gewöhnlich.
» Mo? Bist du hier oben?«
Ich schob die Schneekugel in meine Tasche. Meine Mutter öffnete die Tür; sie machte sich nicht die Mühe zu klopfen. Sie trug immer noch ihre übliche Werktagskleidung, einen knielangen Khakirock, eine mit blauen und weißen Blumen übersäte Baumwollbluse und vernünftige flache Schuhe mit Luftpolstersohlen. Solange ich zurückdenken konnte, hatte sie immer die Frühschicht übernommen und war rechtzeitig nach Hause gekommen, um meine Hausaufgaben zu überprüfen und das Abendessen vorzubereiten. Ich war mir nicht sicher, wann aus diesem Muster statt reiner Gewohnheit etwas Erstickendes geworden war.
» Wir haben einen Gast.«
» Er ist kein Gast. Er arbeitet für Onkel Billy.«
Sie kniff die Lippen zusammen. » Dieser junge Mann ist hier, um mir einen Gefallen zu tun. Das macht ihn zu einem Gast.«
Mit dem Fuß stieß ich die Tasche weiter unter den Schreibtisch. Ich zog in Erwägung, meine Mutter darauf hinzuweisen, dass ein Gefallen normalerweise nichts war, wofür man bezahlte, aber es war den Kampf nicht wert. Bei meiner Mutter waren das ohnehin nicht viele Dinge.
Sie strich die Bettdecke glatt und zog Bogart hinter den Kissen hervor, hinter die ich ihn gestopft hatte. Sie setzte ihn vorn in die Mitte und tätschelte ihn befriedigt. » Ich bin froh, dass das geklärt ist. Billy sagt, auf dem Polizeirevier ist alles gut gegangen?«
Natürlich hatte sie ihn danach gefragt, nicht mich. » Die Anwältin scheint schlau zu sein. Ich konnte aber niemanden identifizieren. Was, wenn sie die Leute nicht finden, die es getan haben?«
» Sie werden sie finden«, sagte sie mit Nachdruck. » Und dann lassen wir das alles hinter uns.«
War ich die Einzige, die Veritys Tod gar nicht hinter sich lassen wollte? Es kam mir vor, als würde ich sie ein zweites Mal im Stich lassen.
Meine Mutter nickte erwartungsvoll zur Treppe hinüber. » Unser Gast?«
Seufzend folgte ich ihr nach unten. Colin stand auf, als wir in die Küche kamen. » Ich kann draußen warten, Mrs. Fitzgerald. Es tut mir leid, dass ich Sie so überrumpelt habe.«
» Nun seien Sie doch nicht albern! Wir haben Ihnen noch nicht einmal etwas zu essen angeboten«, sagte sie und hatte Mühe damit, die unvertraute Vorstellung, dass ein Gast nicht zum Abendessen blieb, überhaupt zuzulassen. Sie sah demonstrativ in den tadellos aufgeräumten Kühlschrank. » Ich habe nicht viel da… Zimtbrötchen? Ich habe sie gestern gebacken, aber sie sind noch frisch.«
Colin ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. » Ich glaube nicht, dass ich schon einmal selbstgebackene gegessen habe.«
Etwas Besseres hätte er gar nicht sagen können. Es gelang ihm sogar, unter der rauen Schale aufrichtig zu klingen. Meine Mutter strahlte und stellte die Zimtbrötchen in die Mikrowelle, um sie aufzuwärmen, dann setzte sie eine frische Kanne Kaffee auf. Als sie die Brötchen auf schlichte weiße Keramikteller legte, erfüllte der Geruch nach Zimt und buttrigem Teig den Raum. » Mo? Setzt du dich zu uns?«
Ich wollte eigentlich nicht. Meine Mutter war in einen Backrausch geraten, seit wir aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen waren, aber sogar das, was ich sonst am liebsten mochte– die Zimtbrötchen, ihr besonderes Schwarzbrot, die Zitronenschnitten–, schmeckte nicht richtig. Ich war allerdings nicht in Stimmung, mir eine Predigt darüber anzuhören, dass ich bei Kräften bleiben müsste, und so blieb ich.
Als die Mikrowelle piepste, stellte ich Colins Teller klappernd ab und schlüpfte auf meinen Platz, entschlossen, nicht zu reden.
Er nahm einen Bissen, und eine Sekunde später weiteten sich seine Augen. » Ich kaufe nie wieder diese fertigen Brötchen!«
Meine Mutter tätschelte ihm die Schulter; er hatte sie voll und ganz für sich eingenommen. » Das ist schon ein Unterschied, nicht
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