Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
Zitternd löste ich die Verschnürung und schüttelte den Inhalt auf meine Handfläche.
Ein Ring. Ein zarter Kreis aus Gold, so fein und zierlich, dass ich Angst hatte, ihn anzufassen. In der Mitte war ein schimmernder, kobaltblauer Stein eingelassen, nicht in Facetten geschliffen wie ein Saphir, sondern glatt und glänzend wie ein Opal. Der Stein war mit vier wie die Himmelsrichtungen einer Kompassrose angeordneten Diamanten verankert, von denen jeder einzelne einen sehr schönen Verlobungsring abgegeben hätte.
» Mein Gott.« Ich verstand nicht viel von Schmuck, aber dieser kunstvolle, glänzende Ring musste teuer sein– viel, viel zu teuer, als dass Verity ihn mit dem hätte bezahlen können, was sie diesen Sommer verdient hatte, als sie für ihre Tante gearbeitet hatte. Hatte sie ihn gestohlen? War sie deshalb getötet worden?
Ich drehte den Ring wieder und wieder in der Hand und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die unleserliche eingravierte Inschrift auf der Innenseite zu entziffern. Der Stein glomm sanft im selben Blau wie Veritys Augen.
Der Ring gehörte ihr. Ich spürte die Gewissheit ganz deutlich in der Brust. Das klärte unglücklicherweise nicht, wie sie dazu gekommen war.
Der Beutel war noch nicht leer. Ich schüttelte ihn erneut und entdeckte eine Speicherkarte wie die in meiner Kamera. Als ich sie stirnrunzelnd betrachtete, hörte ich, wie meine Mutter die Hintertür öffnete.
» Mo, warum sitzt Colin draußen? Du solltest ihn hereinbitten, ihm ein Glas… Maura Kathleen Fitzgerald! Warum hat mein Spülbecken einen Sprung so groß wie eine Untertasse?«
Verdammt. Ich hatte doch gewusst, dass ich etwas vergessen hatte. Ich fegte den Ring und die Speicherkarte in meine Kameratasche, während meine Mutter die Treppe heraufkam.
» Groß wie eine Untertasse! Was hast du bloß getan?«
» Ich habe die Bratpfanne fallen lassen. Ich habe mir Käse gegrillt, und als ich die Pfanne abwaschen wollte, ist sie mir aus der Hand gerutscht.« Es zeigte sich, dass es mit dem Lügen wie mit allem anderen ist: Man wird besser, wenn man erst einmal Übung hat. » So groß ist der Sprung nun auch nicht.«
» Das Spülbecken wird rosten. Wir müssen es reparieren lassen. Ich verstehe dich nicht«, fuhr sie fort und steigerte sich in einen richtigen Wutanfall hinein. » Du behandelst deine Kamera wie ein neugeborenes Baby, aber vor meinen Sachen hast du keinen solchen Respekt. Und warum liegt da ein Haufen Glas im Mülleimer?«
Meiner Mutter entging nichts. Für jemanden, der so gut darin war, Geheimnisse zu haben, hielt sie offenkundig nicht viel davon, wenn andere Leute welche hatten.
» Mo? Das Glas?«
Ich zuckte mit den Schultern. » Mir ist eine Flasche Eistee runtergefallen. Es ist heute einfach nicht mein Tag.«
» Was soll ich mit dem Spülbecken machen? Die Reparatur wird nicht billig.«
Ich wollte nur, dass sie ging. Der Ring lag in meiner Kameratasche– der erste echte, greifbare Hinweis, den ich hatte und der mich anflehte, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Ich musste planen, wie ich mich heute Nacht davonschleichen würde. Vor allem aber wollte ich den Streit, der sich abzeichnete, vermeiden, denn es wäre dabei nicht um das Spülbecken, die Party oder irgendetwas anderes so Triviales gegangen. Es wäre der Streit gewesen, den wir seit Jahren ausfochten, ohne die Worte je auszusprechen. Ich weiß nicht, wann mir bewusst geworden war, dass meine Mutter von mir erwartete, die perfekte Tochter zu sein, so als ob mein Wohlverhalten eine Art Buße für die Sünden meines Vaters wäre. Ich wusste nur, dass ich es leid war.
» Gut«, blaffte ich, » ich bezahle die Reparatur. Es ist ja nicht so, als ob ich das Geld brauche, denn die nächsten hundert Jahre komme ich ja doch nirgendwohin.«
» Rede nicht in diesem Ton mit mir. Ich passe nur auf dich auf. Das tun wir alle.«
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Colin saß in seinem Truck, aß ein Baguettesandwich und las in einem weiteren Taschenbuch.
Ja. Alle passten auf mich auf– oder passten zumindest auf, was ich tat. Wie auch immer, ich verabscheute es. Und ich verabscheute es, mich dafür entschuldigen zu müssen.
» Egal. Sind wir fertig? Ich muss noch König Lear zu Ende lesen.«
Ihre Augen verengten sich, und sie presste die Lippen aufeinander. » In einer halben Stunde essen wir zu Abend«, sagte sie und drehte sich auf dem Absatz um.
» Ich habe keinen Hunger!«, rief ich und stieß die Tür zu. Ich war wahrscheinlich der
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