Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
einzige Teenager in Amerika ohne Schloss in der Zimmertür. Das war natürlich immer lästig, aber besonders jetzt. Während ich mit einem Ohr lauschte, ob meine Mutter noch einmal zurückkam, fischte ich den Ring und die Speicherkarte aus der Tasche.
Ich liebe meine Kamera, eine digitale Spiegelreflex mit einem Haufen Objektive, die Onkel Billy mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. Sie schlägt die kleinen Kompaktkameras, die die meisten Leute benutzen, um Längen. Es ist toll, denn das, was man durch den Sucher sieht, ist exakt das Bild, das man bekommt, wenn man eine Aufnahme macht. Es gibt keine Verzerrung, keine Fehler, und sie ist auch schnell, sodass einem nichts entgeht. Zugleich ist sie die beste Methode, die ich kenne, um unsichtbar zu werden. Wenn Leute ein großes schwarzes Objektiv sehen, machen sie sich Gedanken um das, was sie tun– oder darüber, wie ihre Haare aussehen. Niemand sieht die Person, die den Fotoapparat hält.
Ich wartete, bis die Bilder luden, und blätterte die Aufnahmen durch, als sie auf dem winzigen Bildschirm erschienen. Fotos aus dem Garden District, schickes Schmiedeeisen und alte Gebäude. Und Bilder von Luc. Jede Aufnahme enthielt etwas von Veritys Lebendigkeit, ihrer Ausstrahlung. Es war ein Foto von ihr und Luc dabei, wie sie zusammen vor einem Café saßen: Der Winkel war ganz schief, als ob sie die Kamera mit ausgestrecktem Arm von sich gehalten und das Bild selbst aufgenommen hatte. Luc küsste sie auf die Wange, und Veritys Gesicht war vor Lachen verzogen; sie wirkten völlig entspannt miteinander. Ich schluckte und sah mir das nächste Bild an: Luc starrte mit gespielt finsterer Miene hinter einem Glas Eistee hervor. Evangelines Laden, dessen diskretes Holzschild von glänzenden Messingketten hing. Noch ein Bild von Luc, wie er auf einem schmiedeeisernen Balkon stand und bei Sonnenuntergang über die Stadt blickte. Man konnte sehen, dass Verity es aufgenommen hatte, ohne dass er davon gewusst hatte, weil er völlig arglos wirkte, gelöst genug, auf die Allüren zu verzichten, die er mir gegenüber immer an den Tag legte.
Ich wollte glauben, dass Verity mir etwas zu erzählen versuchte, dass sie gewollt hatte, dass ich diese Bilder und den Ring fand und sie wie eine komplizierte Gleichung zusammensetzte. Aber ich konnte einfach nicht herausbekommen, was X war.
Vor Wut lief ich im Zimmer auf und ab. Warum hatte Verity so viel geheim gehalten? Was hätte sie jetzt von mir erwartet? Ich klickte mich noch einmal durch die Bilder und wurde langsamer, als ich zu denen von Luc kam. Er wirkte weicher. Glücklicher. Natürlich tat er das– Verity war noch am Leben gewesen. Das harte Funkeln seiner Augen und die zusammengebissenen Zähne fehlten, weil sie beieinander gewesen waren. Ihre offensichtliche Zuneigung machte eines deutlich– sie hatte ihm vertraut. Luc war auf meiner Seite, oder zumindest auf Veritys.
Während ich über die Bilder nachgegrübelt und die wiederholten Rufe meiner Mutter zum Abendessen ignoriert hatte, war die Nacht hereingebrochen– eine spätsommerliche, marineblaue Dunkelheit. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ich hatte ein unaufrichtiges » Gute Nacht« gemurmelt, als meine Mutter vor einer Stunde zu Bett gegangen war, und jetzt war es kurz nach zehn. Ich stellte das Licht aus und wartete auf das leise Grollen von Colins davonfahrendem Truck.
Als das Geräusch verklungen war, zog ich mich um. Ich wollte etwas tragen, das… nicht nach mir aussah. Etwas, das den Leuten beweisen würde, dass es mir gut ging, obwohl es das nicht tat. Sie würden ohnehin über mich reden– das ließ sich nicht vermeiden–, aber ich wollte offenem Mitleid entgehen. Ich entschied mich am Ende für einen kurzen schwarzen Rock und ein seidiges grünes Oberteil; dazu trug ich einen lilafarbenen Schal. Verity hatte diese Aufmachung immer gefallen. Vielleicht würde sie mir einen Teil ihrer Kraft verleihen.
Es kam mir nicht richtig vor, den Ring zurückzulassen, und so fädelte ich ihn auf die Goldkette, die ich zur Firmung bekommen hatte, streifte sie mir über den Kopf und versteckte sie sorgsam unter dem Schal. Die Kette war lang genug, um den Ring unter meinem Oberteil zu verbergen, und er ruhte kühl auf meiner Haut wie ein Talisman, als wäre Verity noch in der Nähe.
Ich wusste nicht, warum ich hinging. Vielleicht, um meiner Mutter eins auszuwischen, um zu testen, wie gut Colin war, um zu sehen, ob ich tatsächlich ohne Verity zurechtkam, oder um mein
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