Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
Familie an? Die einzige Familie, die zählte, war Verity, und die war tot. Kowalski machte sich Gedanken um meinen Vater? Mein Vater war so einiges– abwesend, egoistisch und obendrein ein Krimineller–, aber er war verdammt noch mal nicht mit uns in dem Durchgang gewesen.
Der Vorhang wurde mit einem harschen Rasseln aufgerissen. » Sag kein Wort mehr zu diesem Mann, Mo.«
Onkel Billy höchstpersönlich.
Kapitel 2
Ich ließ den Kopf erleichtert wieder ins Kissen sinken. Onkel Billy rauschte mit Volldampf an Kowalski vorbei, aber mein Anblick ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. Ich fragte mich, wie schlimm ich wohl aussehen musste, um diesen entsetzten Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern.
» Jesus, Maria und Joseph«, hauchte er.
Also ziemlich schlimm.
Ohne den Blick von mir abzuwenden, rief er: » Hier drinnen, Annie«, und meine Mutter erschien; sie sah Jahrzehnte älter aus als heute Nachmittag im Restaurant. Ein weiterer Polizist– jünger und in Uniform– folgte ihr herein.
» Maura! Oh, Mo! Oh, mein Kleines!« Mit Tränen in den Augen eilte sie zu mir. » Oh, Süße«, rief sie und strich mir mit zitternden Händen das Haar aus der Stirn.
Ich habe meine Mutter lieb, aber in Krisensituationen ist sie nicht unbedingt in Bestform. Doch ihr Anblick– ihr vernünftiger Khakirock, ihre blaue Bluse, ihr rasch zu einem Knoten aufgestecktes Haar, ihr abgetragener Ehering, der matt an ihrer Hand glänzte– machte alles zu gewöhnlich, als dass es nicht real hätte sein können, und mir kamen erneut die Tränen. » Mom?«
» Was ist passiert?« Sie strich mir immer wieder das Haar zurück, wie sie es getan hatte, als ich noch ein Kind gewesen war, und sie roch nach Veilchenhandcreme und Tee. » Ich war schon im Bett– du weißt doch, ich übernehme morgen die Frühschicht–, und dann hat das Krankenhaus angerufen, und ich habe Billy angerufen, und wir sind so schnell hergekommen, wie wir konnten. Kannst du dir vorstellen, wie sich das angefühlt hat, Mo? Vor dem Anruf habe ich mich schon immer gefürchtet. Alle Eltern haben Albträume darüber. Es war schrecklich– einfach nur schrecklich–, und ich war in Panik, völlig in Panik. Ich habe auf dem Weg hierher immer wieder den Rosenkranz gebetet.« Auch typisch Mom. Sie stellt mir eine Frage und antwortet, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann.
Sie hielt inne, um Luft zu holen, und Onkel Billy mischte sich ein. » Was ist geschehen?«
Aus dem Augenwinkel sah ich Kowalski sein Gespräch mit dem anderen Cop unterbrechen, sein Gewicht verlagern und den Kopf wenden, um meine Antwort mit anzuhören.
» Es ist alles ganz verschwommen«, murmelte ich. » Mein Kopf…« Mein Kopf tat wirklich weh, und mit jedem neuen Besucher in dem schon überfüllten Zimmer breitete der Schmerz sich weiter aus und vertiefte sich.
» Hast du Schmerzen? Können sie dir etwas holen?« Meine Mutter hielt eine Sekunde lang die Hand an meine Wange und umklammerte meine gesunde Hand, als könnte ich ihr entgleiten. » Sag mir, was du brauchst.«
» Sie wollen mir nichts über Verity sagen.« Ich würgte die Worte hervor.
» Oh, Süße«, sagte sie in unaufrichtig fröhlichem Ton. » Mach dir darüber nur jetzt keine Sorgen. Konzentrier dich darauf, dich zu erholen.«
Aha. Eine der patentierten Nichtantworten meiner Familie.
» Mom, bitte. «
Sie sah hilflos zu Onkel Billy. » Mo, es ist so…« Sie warf ihm noch einen Blick zu– eine Frau, die zum dritten Mal unterging, und er rettete sie.
» Es wird ihr bald wieder gut gehen, meine Liebe, ganz gut, aber du kannst sie jetzt nicht sehen. Deine Mutter hat recht. Wir müssen dafür sorgen, dass du dich wieder erholst und von hier wegkommst.« Er starrte Kowalski böse an.
Sie logen, allesamt. Das eine, was ich mit völliger Klarheit unter dem Eis, das mich umhüllte, wusste, war, dass es Verity ganz und gar nicht gut ging.
Meine Mutter begann leise zu weinen, und Onkel Billy, der nicht viel von solchen Dramen hielt, nutzte Kowalski als Fluchtweg– und als Zielscheibe.
Leute, die ihm begegnen, neigen erst mal dazu, Onkel Billy mit seinem weißen Haarschopf und seinem drahtigen kleinen Körper zu unterschätzen. Um seine blauen Augen bilden sich Fältchen, wenn er lacht, und das tut er die meiste Zeit über. Er ist gut fünfzehn Jahre älter als meine Mutter, und das sieht man ihm an. Er ist ein fröhlicher, lebendiger Bursche, der nie stillhält, immer in Bewegung ist. Aber wenn man ihn verärgert, wird er still,
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