Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
und all die Energie ballt sich in ihm zusammen, immer enger und dunkler, wie ein Sommergewitter. Jeder, der dann noch dumm genug ist, ihn weiter zu bedrängen, täte besser daran, sich einem echten Blitz auszusetzen als Onkel Billys Zorn.
Die Stimmen der Männer waren gedämpft, aber ich konnte sie unter dem Weinen meiner Mutter hindurch hören. » Das Mädchen ist traumatisiert, Sie Pferdearsch! Was denken Sie sich dabei, sie jetzt zu verhören?«
» Sie ist eine Zeugin«, sagte Kowalski ausdruckslos und zog sich die Hose hoch. » Bis jetzt ist sie meine einzige Zeugin, es sei denn, Sie wollen eine Aussage machen. Gibt es irgendetwas, über das Sie mir gern Aufschluss geben würden, Grady?«
» Sie ist minderjährig. Und wenn Sie noch einmal ohne Anwalt und ohne Zustimmung ihrer Mutter mit ihr reden, sorge ich dafür, dass Ihre Dienstmarke eingezogen wird. Wäre das nicht schade, Joseph, so kurz vor der Pensionierung?« Onkel Billy musterte Kowalski mit dem gleichen Blick, der schon Möbelpacker in die Flucht geschlagen hatte, aber er bemerkte den Gesichtsausdruck meiner Mutter, und wie eines dieser Gewitter endete es so schnell, wie es begonnen hatte.
» Mo, meine Liebe«, sagte er, kam zur anderen Seite meines Betts und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. » Was du auch brauchst, sag es einfach.«
Ich brauchte Verity zurück. Und Onkel Billy hätte sie zurückgeholt, wenn er gekonnt hätte, genau wie er sich in den letzten zwölf Jahren um meine Mutter und mich gekümmert hatte, aber selbst er konnte die Toten nicht wiedererwecken. Ich kannte Verity schon mein ganzes Leben. Wir waren in blauen Schottenröcken und Kniestrümpfen zusammen in den Kindergarten gekommen. Wir hatten gemeinsam Erstkommunion gehabt und in weißen Rüschenkleidchen nervös gekichert. Wir hatten gemeinsam Sport- BH s und Kleider für den Homecoming-Ball gekauft. Wir hatten Collegebroschüren durchgelesen und auf dem Boden ihres Zimmers für die Abschlussprüfungen gebüffelt. Bei allem, was ich jemals hatte durchstehen müssen– gemeine Lehrer, riesige Pickel, die erste Liebe, dass mein Vater im Gefängnis gelandet war–, war sie für mich da gewesen und hatte alles besser gemacht. Wann immer etwas Schlimmes geschehen war, hatte sie mich gestützt. Jetzt war das Schlimmste überhaupt geschehen, und sie konnte mir nicht helfen, weil ich ihr nicht geholfen hatte.
Ich hatte nicht ganz gelogen, als ich Kowalski erzählt hatte, dass ich mich an nichts erinnern könnte. Manches davon war wirklich fürchterlich verschwommen, die schwarzen Schemen und die Schreie, und vieles war einfach verloren, aber an eines erinnerte ich mich ganz genau. An das, was ich ihm niemals verraten würde. Verity hatte mir gesagt, dass ich davonlaufen sollte, als diese Dinger sich um uns herabgesenkt hatten, und das hatte ich getan.
Ich sah auf meine verbundene Hand hinab, auf das Blut, das noch immer von meiner Haut abbröckelte und eine Spur über meinen Arm und mein früher grünes T-Shirt zog. Veritys Blut. Nicht meines. Veritys Blut auf mir. Das Zimmer begann enger und schwarz zu werden, und mein Atem kam in kurzen, abgehackten Stößen.
» Mo«, warnte meine Mutter mich und drückte mir fester die Hand. » Atme, Süße.«
» Ich will Verity sehen«, keuchte ich gegen die Dunkelheit an. » Sofort, Mom. Bitte.«
» Du machst Theater«, sagte sie. » Komm schon, Schatz. Tiefe, langsame Atemzüge. Ein und aus.«
Richtig. Das Elfte Gebot der Fitzgeralds : Du sollst kein Theater machen.
Die Ärztin– diesmal die echte, eine dunkelhaarige Frau mit leiser, melodiöser Stimme– zog die Vorhänge auseinander und scheuchte dann alle bis auf meine Mutter hinaus. Sie nahm mir die schwarze Klammer vom Finger, untersuchte mich und stieß einen verwirrten Laut aus. Sie kritzelte eine Notiz auf die Karteikarte. » Wie fühlst du dich?«
» Beschissen«, sagte ich.
Meine Mutter kniff den Mund zusammen. » Mo!«
» Wir geben dir jetzt, da du wach bist, etwas gegen die Schmerzen«, sagte die Ärztin lächelnd. » Mrs. Fitzgerald, kann ich Sie draußen sprechen?«
Sie wollten wahrscheinlich über all die Dinge reden, von denen sie annahmen, ich sei nicht stark genug, sie zu hören. Als sie zurückkamen, waren die Augen meiner Mutter tränenfeucht und panisch, der Blick der Ärztin nachdenklich.
» Kann ich nach Hause?«, fragte ich.
» Bald«, sagte die Ärztin. » Ich habe noch ein paar Untersuchungen angeordnet, und ein paar Schmerzmittel. Deine Mutter und
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