Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
Lippen. Er war nicht besonders gut aussehend, mit kleinen Augen hinter den Brillengläsern und schwachem Kinn, und strahlte unterschwellig übermächtige Verzweiflung aus. Ich hielt den Blick auf Lucs Tisch gerichtet, der in einem Spiegel hinter der Bar zu sehen war.
» Das ist witzig«, sagte er nach einer Weile, » du kommst mir so bekannt vor. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
» Das bezweifle ich«, erwiderte ich höflich. Ich hatte nicht viel Erfahrung damit, angebaggert zu werden, aber jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um zu üben. » Ich bin nicht von hier.«
» Chicago, oder? Du hast den Akzent.«
Ich errötete. Lucs Akzent war mir immer aufgefallen, aber ich hatte nie darüber nachgedacht, dass ich selbst einen haben könnte. Dieser Typ hier schien gar keinen zu haben– er hatte die deutliche, nicht näher einzuordnende Aussprache eines Nachrichtensprechers.
» Ist das so offensichtlich?«
» Nein«, sagte er munter. » Du bist weit weg von zu Hause.«
Ich nickte und warf wieder einen Blick zu Lucs Tisch hinüber, dann einen auf meine Armbanduhr. Wie lange würde es dauern, bis Lena merkte, dass ich weg war? Bevor sie Ms. C. Bescheid sagte? Bevor Colin beschloss, mich anzurufen, und bemerkte, dass eine Bar überhaupt nicht wie das Klassenzimmer des Journalismuskurses klang?
Der Brillentyp klopfte in unregelmäßigem Rhythmus auf die Theke. » Wartest du auf jemanden?«, fragte er.
» So ungefähr.«
» Das habe ich mir gedacht. Du siehst immer wieder zu den Tischen hinüber. Ich mache dich doch nicht nervös, oder?«
» Nein.« Zumindest bis jetzt noch nicht. Aber ich fuhr seit Jahren mit CTA -Bussen. Man lässt nie– nie – jemanden erkennen, dass er einen aus der Fassung bringt.
Er hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass er harmlos war. » Tut mir leid. Ich kann bloß einfach nicht glauben, dass jemand ein Mädchen wie dich ausgerechnet hier warten lassen würde.«
Ein Mädchen wie mich. Schon wieder diese Formulierung. Zugegeben, sie klang etwas weniger beleidigend, wenn sie von einem Kerl kam, der mich anzumachen versuchte.
» Danke.« Obwohl ich einen Stich von Unbehagen dabei verspürte, Lucs Anweisungen zu ignorieren, lächelte ich den Mann an. » Also kommst du aus New Orleans?«
» Nein, nein. Das ist das Witzige am Dauphine, weißt du? Es ist eine Wegkreuzung. Man trifft dort Leute von überall… Ich kannte ein anderes Mädchen aus Chicago«, fügte er hinzu und unterbrach das unausgesetzte Trommeln. » Etwa in deinem Alter, denke ich. Vielleicht hast du sie gekannt?«
Ich stellte den Becher vorsichtig ab und versuchte, im Spiegel Lucs Blick aufzufangen. Er war mit Niobe tiefer in die Nische gerückt und nicht zu sehen. Wenn ich im Bus gewesen wäre, hätte ich jetzt nach einem frei werdenden Sitz Ausschau gehalten. » Chicago ist eine große Stadt.«
» Klar«, sagte er freundlich. » Aber irgendetwas an dir erinnert mich an sie. Sie war ein nettes Mädchen. Ich habe aber gehört, dass es nicht mehr so gut für sie gelaufen ist, als sie wieder in Chi-Town war.«
Ich kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu verdrehen. Nur Touristen und Zeitungskolumnisten nennen Chicago Chi-Town. Ich drückte den Zeigefinger gegen die Tropfen, die auf meinem Becher kondensierten, und zwang meine Hand, nicht zu zittern. » Wirklich? Was ist geschehen?«
» Oh, du weißt doch, wie das mit Gerüchten so ist. Manche Leute behaupten, dass ihr rohe Magie über den Kopf gewachsen sei. Irgendwer hat gesagt, dass sie sogar dachte, sie wäre das Mädchen aus der Sturzflutprophezeiung. Als ob irgendjemand ihr das geglaubt hätte!«
» Aus der Sturzflutprophezeiung?«, sagte ich. » Du glaubst nicht, dass sie gemeint war?«
» Na ja«, sagte er und beugte sich so nahe heran, dass ich das Bier in seinem Atem riechen konnte, Hefe und Säure, » wenn sie wirklich das Gefäß war, wäre sie nicht so verdammt leicht zu töten gewesen, oder?«
Ich erstarrte. Warum zur Hölle brauchte Luc so lange? Diskutierte er mit Niobe über die letzte Empfehlung aus Oprahs Buchclub?
Ich drehte den Becher in der Hand und versuchte verzweifelt, Gleichmut statt Entsetzen auszustrahlen. Was auch immer Niobe wusste, dieser Typ wusste mehr, und es war kein Zufall, dass er hier war. Ich musste ihn am Reden halten. » Kanntest du dieses Mädchen gut?«
» Überhaupt nicht.«
» Wie kommt es dann, dass ich dich an sie erinnere?«
» Sie war allzu selbstsicher. Sie dachte, sie wäre das Gefäß, glaubte, sie
Weitere Kostenlose Bücher