Der Weg in Die Schatten
wünschte nur, sie wären nicht nackt.«
Logan brach in Gelächter aus. »Ich weiß! Die meiste Zeit bemerke ich es gar nicht mehr, aber ab und zu trete ich durch die Tür und - da stehen zwei riesige nackte Männer in meinem Haus. Wegen meiner neuen Pflichten treffe ich mich mit allen
Gefolgsleuten und Freunden meines Vaters - wieder einmal. In Wirklichkeit ist es eine Chance für die Damen, ihre Töchter vorzustellen und zu hoffen, ich würde mich Hals über Kopf in sie verlieben. Ich habe eine Dame und ihre Tochter begrüßt - ich werde keinen Namen nennen -, aber sie sind schöne Frauen und sehr sittsam, sehr keusch. Also, ich bin ziemlich groß, stimmt’s? Und beide müssen den Kopf in den Nacken legen, um mir in die Augen zu schauen, und während ich rede und mitten in einer Geschichte bin und die Mutter mit der Zunge schnalzt und die Tochter absolut fasziniert wirkt und ich mich langsam frage, ob ich etwas im Haar oder im Ohr oder sonst wo habe, weil sie beide genau an mir vorbeischauen...«
»Oh nein«, sagte Kylar lachend.
»Ich blicke über meine Schulter, und da sind... nun, da sind in dreifacher Lebensgröße... Marmorgenitalien. Und das ist der Moment, in dem sie begreifen, dass ich bemerkt habe, dass sie die ganze Zeit über meine Schulter schauen, und ich begreife, dass dies das erste Mal ist, dass die Tochter jemals einen nackten Mann gesehen hat - und ich vergesse vollkommen, welche Geschichte ich ihnen erzählt habe.«
Sie lachten gemeinsam, und Kylar war überaus dankbar dafür, dass Logan ihm genug Zusammenhänge geliefert hatte, um sich zusammenzureimen, was »Genitalien« waren. Redeten alle Adeligen so? Was, wenn Logan beim nächsten Mal die Pointe ohne den Zusammenhang aussprach? Logan deutete auf ein Porträt an der Wand, das einen kahlköpfigen Mann mit eckigem Kinn zeigte, der nach einer unvertrauten Mode gewandet war. »Dafür habe ich ihm zu danken. Mein Urururgroßvater, der Kunstliebhaber.«
Kylar grinste, aber er hatte das Gefühl, als habe man ihn geschlagen. Logan wusste Dinge von seinem Urururgroßvater.
Kylar wusste nicht einmal, wer sein Vater war. Es folgte Schweigen, und Kylar war klar, dass es an ihm war, dieses Schweigen zu füllen. »Ich, ähm, habe gehört, dass die Grasq-Zwillinge ungefähr sechs Schlachten gegeneinander geführt haben.«
»Ihr kennt ihre Geschichte?«, fragte Logan. »Das tun nicht viele Menschen unseres Alters.«
Zu spät begriff Kylar, welches Risiko es barg, sich als Liebhaber von Geschichten auszugeben, und das gerade diesem Mann gegenüber, der Bücher liebte - und sie tatsächlich lesen konnte. »Ich habe wirklich eine Schwäche für alte Geschichten«, sagte Kylar. »Aber meine Eltern sehen es nicht gern, wenn ich ›meine Zeit damit verschwende, mir den Kopf mit Geschichten vollzustopfen‹.«
»Ihr mögt Geschichten wirklich gern? Aleine fängt immer an, so zu tun, als schnarche er, wenn ich über Geschichte rede.« Aleine? Oh, Aleine Gunder, Prinz Aleine Gunder X. Logans Welt unterschied sich wirklich sehr von seiner. »Schaut Euch das an.« Er winkte Kylar an den Tisch. »Hier, lest einmal diese Stelle.«
Das würde ich mit Freuden tun, wenn ich lesen könnte. Kylars Herz setzte einen Schlag aus. Seine Tarnung war noch immer so zerbrechlich. »Wenn Ihr so redet, fühle ich mich wie bei meinen Lehrern«, sagte er und machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich will nicht eine Stunde lang lesen, während Ihr Däumchen dreht. Warum erzählt Ihr mir nicht einfach die guten Stellen?«
»Ich habe das Gefühl, als würde ich das Reden ganz allein besorgen«, erwiderte Logan mit plötzlicher Verlegenheit. »Das ist ziemlich unhöflich.«
Kylar zuckte die Achseln. »Ich halte Euch nicht für unhöflich. Ist es eine neue Geschichte?«
Logans Augen leuchteten auf, und Kylar wusste, dass er außer Gefahr war. »Nein, es ist das Ende des Alkestia-Zyklus, kurz
vor dem Sturz der Sieben Königreiche. Mein Vater lässt mich die großen Führer der Vergangenheit studieren. In diesem Fall handelt es sich natürlich um Jorsin Alkestes. Als sie beim Schwarzen Hügel unter Belagerung standen, hat sein engster Vertrauter, Ezra der Wahnsinnige - nun, damals hieß es noch nicht der Schwarze Hügel, und es sollten noch fünfzig Jahre vergehen, bis Ezra sich in Ezras Wald versteckte... Wie dem auch sei, Ezra war vielleicht der beste Magus aller Zeiten, nach Kaiser Jorsin Alkestes selbst. Sie stehen also an dem Ort unter Belagerung, der jetzt als der Schwarze
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