Der Weg in Die Schatten
inszenierter Selbstmord kann Monate dauern«, antwortete Master Blint. »Abhängig von der Lebensgeschichte der ›Leiche‹. Wenn ich hinter einer bekanntermaßen melancholischen Person her bin, lässt sich diese Zeit auf sechs Wochen verkürzen. Wenn der Betreffende schon früher einmal Selbstmord zu begehen versucht hat, kann ich mit einer Woche auskommen. Ich verschaffe mir auf die eine oder andere Weise Zutritt und verabreiche spezielle Mixturen.«
Azoth versuchte, dem Gespräch aufmerksam zu folgen, aber
etwas an der Tatsache, dass er wieder seine alten Kleider trug, ließ die Illusionen der vergangenen Wochen über ihm zusammenbrechen. Kylar war fort - und zwar nicht, weil Azoth Befehle befolgte und vorgab, Azoth zu sein. Kylar war eine Maske der Zuversicht gewesen. Diese Maske hatte Logan getäuscht, und für kurze Zeit hatte sie auch Azoth getäuscht, aber jetzt war sie fort. Er war Azoth. Er war schwach. Er verstand nicht, was er hier tat oder warum, und er hatte Angst.
Blint sprach weiter und würdigte ihn dabei keines Blickes. »Die ›Leiche‹ wird depressiv, in sich gekehrt, argwöhnisch. Die Symptome verschlimmern sich allmählich. Dann stirbt vielleicht ein geliebtes Haustier. Die Zielperson ist bereits reizbar und paranoid, und schon bald sucht sie Streit mit ihren Freunden. Die Freunde, die zu Besuch kommen - zumindest solche, die eine Erfrischung zu sich nehmen -, werden unleidlich, während sie mit der ›Leiche‹ zusammen sind. Sie streiten. Sie hören auf, zu Besuch zu kommen. Manchmal schreibt die Zielperson den Brief selbst. Manchmal begeht der Betreffende sogar eigenhändig Selbstmord, obwohl ich dies genauestens überwache, um sicherzustellen, dass er eine für die erwünschte Wirkung geeignete Methode wählt. Mit ausreichend Zeit vermutet niemand etwas anderes als Selbstmord. Die Familie selbst wird die Details häufig vertuschen und die wenigen Beweise, die es gibt, vernichten.«
»Beim Barte des Hohen Königs, ist so etwas wirklich möglich?«, fragte der Lordgeneral.
»Möglich? Ja. Schwierig? Sehr. Es bedarf einer erheblichen Anzahl sorgfältig gemischter Gifte - wisst Ihr übrigens, dass jeder anders auf Gifte reagiert? - und einer immensen Menge an Zeit. Wenn ein gefälschter Brief erforderlich ist, werden die Korrespondenz und die Tagebücher der Zielperson analysiert,
so dass nicht nur die Handschrift, sondern auch der Schreibstil und sogar eine bestimmte Wortwahl übereinstimmen.« Durzo lächelte wölfisch. »Das stille Morden ist eine Kunst, Mylord, und ich bin der begabteste Künstler der Stadt.«
»Wie viele Menschen habt Ihr getötet?«, erkundigte sich der Lordgeneral.
»Wollen wir es dabei bewenden lassen, dass ich niemals müßig bin.«
Der Mann spielte mit seinem Bart und blickte auf den Handzettel, den Master Blint ihm gegeben hatte; er war offensichtlich unruhig. »Darf ich Euch nach anderen Zielpersonen fragen, Master Blint?«, fragte er mit plötzlichem Respekt.
»Ich ziehe es vor, dass Ihr Euch nur nach jenen Todesfällen erkundigt, die Ihr ernsthaft in Erwägung zieht«, erwiderte Master Blint.
»Warum?«
»Ich schätze Geheimnisse sehr hoch, wie ich es tun muss. Daher diskutiere ich nicht gern über meine Methodik. Und um ehrlich zu sein, verängstigt es in der Regel meine Auftraggeber, wenn sie zu viel wissen. Ich hatte einmal einen Klienten, der sehr stolz auf seine Verteidigungsmaßnahmen war. Er fragte mich, wie ich einen Kontrakt gegen ihn erfüllen würde. Er hat mich verärgert, also habe ich es ihm gesagt. Danach versuchte er, einen anderen Blutjungen damit zu beauftragen, mich zu töten. Jeder Experte in Cenaria hat ihm eine Abfuhr erteilt. Am Ende heuerte er einen Amateur an.«
»Ihr umgebt Euch mit dem Status einer Legende«, bemerkte der Lordgeneral mit verkniffenem Gesicht.
Natürlich war Durzo Blint eine Legende! Wer würde ihn engagieren, wenn die Leute das nicht wüssten? Gleichzeitig war es unheimlich, Master Blint mit einem Adligen - jemandem
wie Graf Drake - über sein Gewerbe sprechen zu hören. Es war, als würden Azoths zwei Welten einander unbehaglich nahe kommen, und er konnte die Ehrfurcht des Adligen in sich selbst spüren.
In der Gilde war Durzo Blint eine Legende gewesen, weil er Macht hatte, weil Menschen ihn fürchteten und weil er selbst niemals jemanden zu fürchten brauchte. Das war es, was ihn für Azoth so interessant gemacht hatte. Aber dieser Adlige war aus anderen Gründen ehrfürchtig. Für ihn war Durzo Blint
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