Der Weg in Die Schatten
Steinbrüche und der gesamte Handel mit Steinen befanden sich im Besitz der Sa’kagé, daher konnten es sich jetzt nur noch die Wohlhabenden leisten, mit Stein zu bauen. Das war einer der Gründe, warum die meisten Säulen der Aquädukte inzwischen verschwunden waren. Die Armen im Labyrinth stahlen den Stein für ihre eigenen Zwecke oder um ihn auf dem Schwarzmarkt an die Mittelklasse zu verkaufen - trotz der Gefahren, die es barg, die Sa’kagé zu prellen.
Die Burg war vor vierhundert Jahren erbaut worden, als Cenaria während der dreißig Jahre von König Abinazaes Herrschaft eine bedeutende Macht gewesen war. Er hatte die Burg kaum fertiggestellt, als er beschloss, weiter nach Osten vorzudrängen und in Ossein die Chantry einzunehmen, und mehrere tausend Magae seinen Ambitionen dauerhaft ein Ende bereiteten. Die Burg war als traditionelle Vorhofanlage auf einem künstlichen Hügel erricht worden. Die beiden Arme des Plith, zwischen denen die Insel Vos lag, hatten als natürlicher Graben gedient; die Insel war aufgeschüttet und darauf die Festung erbaut worden. Aus dem ursprünglichen Vorhof, verbunden mit der Burg durch die Westliche Königsbrücke, hatte sich im Lauf der Zeit das Labyrinth entwickelt und dann weiter nach Süden ausgedehnt. Sein ursprünglicher nördlicher Teil lag auf einer schmalen Halbinsel, die steil zum Fluss hin abfiel. Die Anlage war so gut zu verteidigen, dass weder die hölzernen Palisaden der Burg noch die des Labyrinths jemals eingenommen worden waren. Aber die Stadt war zusammen mit König Abinazaes Stolz angeschwollen, so dass Burg Cenaria aus Stein neu gebaut worden war und die Stadt sich bis auf das Ostufer des Plith ausgebreitet hatte. Die Aquädukte allerdings waren und blieben ein Rätsel. Es hatte sie schon lange vor König Abinazae gegeben, und sie
schienen keinem Zweck zu dienen, da der Plith selbst Süßwasser führte - auch wenn es jetzt nicht mehr besonders sauber war.
Kylar verließ den karoförmigen Burghof und ging die steinerne Treppe hinauf, die im Laufe der Jahrhunderte von so vielen Füßen abgetreten worden war, dass die Mitte einer jeden Stufe mehrere Zentimeter tiefer war als die Ränder. Die Wachposten ignorierten ihn, und er nahm das Gehabe eines Dienstboten an. Es war eine seiner häufigsten Tarnungen. Blint sagte gern, dass eine gute Tarnung einen Blutjungen besser schützte als die Schatten. Kylar konnte direkt an fast jedem, den er kannte, vorbeigehen, mit Ausnahme von Graf Drake. Dem Mann entging nicht viel.
Schon bald hatte er die hektischste Betriebsamkeit des Innenhofs und der großen Halle hinter sich gelassen. Er ging vorbei an den Reihen von Menschen, die auf eine Audienz im Thronsaal warteten, vorbei an den offenen Doppeltüren zu den Gärten, und setzte seinen Weg in Richtung Nordturm fort. In den Fluren waren viele Menschen unterwegs, bis er in das Vorzimmer des Nordturms trat.
Devon Corgi war nicht da. Kylar nahm sich zum ersten Mal Zeit, möglichst lautlos zu sein, als er die Tür öffnete, die zur Treppe führte. Leise stieg er sie hinauf. Das Treppenhaus war kahl. Keine Zierstücke, keine Nischen, keine Statuen, keine kunstvollen Vorhänge oder irgendetwas, das Kylar ein Versteck geboten hätte.
Er ging bis in die oberste Etage des Turms. Dort befand sich, wie es schien, nur ein großes Schlafgemach, das derzeit nicht benutzt wurde. Ein junger Mann, der ein dickes Geschäftsbuch balancierte, sah die Schubladen einer Kommode durch und nahm offenbar den Bestand an säuberlich gefalteten Bezügen für das riesige Federbett und Vorhängen für das große, mit Blendläden
versehene Fenster auf. Kylar wartete. Devon saß so, dass er die Tür zu seiner Seite hatte, und ohne Magie, die Kylars Herannahen hätte verbergen können, bestand eine gute Chance, dass der Mann ihn eintreten sehen würde.
Das Warten war immer das Schlimmste. Voller Erregung und ohne einen Platz, an den er sich wenden konnte, gab Kylar sich Fantasien hin, in denen der Wachposten jeden Augenblick die Treppe herauf kam. Wenn er ihn jetzt hier sah, würde er ihn vermutlich durchsuchen. Wenn er ihn durchsuchte, würde er den Schlitz in Kylars Hose finden. Er würde diesen handgroßen Schlitz finden, und er würde das lange Messer finden, das an die Innenseite von Kylars Oberschenkel geschnürt war. Aber er konnte nichts tun. Kylar wartete außer Sichtweite, lauschte und zwang seine Ohren, selbst das Kratzen der Feder auf dem Papier des Inventarverzeichnisses
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