Der Weg in Die Schatten
Dieses Leben war nicht bestimmt für eine Gilderatte. Kylars Leben war ein Wüstenleben. Aber es gibt auch Leben in der Wüste, und an einer kleinen Oase stand Kylars Name geschrieben. Für Azoth war dort kein Platz. Die Oase war zu klein und Azoth zu durstig. Aber Kylar konnte es schaffen. Kylar würde es schaffen. Er würde dafür sorgen, dass Master Blint stolz auf ihn war.
»Gut«, sagte Master Blint. Natürlich konnte er nicht erkennen, was Kylar dachte, aber Kylar wusste, dass der Eifer in seinen Augen unmissverständlich war. »Also, Junge, bist du bereit, ein Schwert in den Schatten zu werden?«
24
»Steh auf, Junge. Es ist Zeit zu töten.«
Kylar war sofort wach. Er war vierzehn Jahre alt, und er hatte sein Training so weit verinnerlicht, dass er sofort seine Überlebensliste durchging. Auf jede Frage gab es nur eine knappe Antwort. Jedes Gefühl erhielt nur einen flüchtigen Augenblick seiner Aufmerksamkeit. Was hat dich geweckt? Stimme. Was siehst du? Dunkelheit, Staub, Nachmittagslicht, Schuppen. Was riechst du? Blint, Abwasser, den Plith. Was fühlst du? Warme Decke, frisches Stroh, mein Bett, kein warnendes Kribbeln. Kannst du dich bewegen? Ja. Wo bist du? Sicheres Haus. Besteht Gefahr? Die letzte Frage war natürlich der Höhepunkt. Er konnte sich bewegen, seine Waffen steckten in ihren Scheiden, alles war in Ordnung.
Dafür gab es keine Garantie, nicht einmal hier in diesem schäbigen sicheren Haus im Schatten eines der wenigen Teilstücke des uralten Aquädukts, die noch standen. Mehr als einmal hatte Durzo ein Schwert an der Decke über Kylars Bett befestigt, und das verdammte Ding war beinahe unsichtbar, wenn man zuerst von unten genau auf seine Spitze sah. Durzo hatte Kylar geweckt, und wenn er die Gefahr nicht binnen drei Sekunden erkannte, hatte Durzo das Seil durchtrennt. Glücklicherweise hatte er die Spitze beim ersten Mal zuvor gekappt und auch beim zweiten Mal. Beim dritten Mal hatte er es nicht getan.
Bei einer anderen Gelegenheit hatte Durzo Kylar von Scarred
Wrable - nur Durzo nannte ihn Ben - wecken lassen. Scarred Wrable hatte sogar Durzos Kleidung getragen und seine Stimme perfekt nachgeahmt - das war ein Teil seiner speziellen magischen Begabung. Aber Kylar war nicht darauf hereingefallen. Nicht einmal eine Knoblauchmahlzeit verlieh dem Mann den gleichen Geruch wie Master Blint, der es vorzog, die Knoblauchzehen roh zu kauen.
Als Letztes musste er Durzos Worte entschlüsseln. Zeit zu töten.
»Ihr denkt, ich bin so weit?«, fragte Kylar mit hämmerndem Herzen.
»Du warst schon vor einem Jahr bereit. Ich brauchte lediglich den richtigen Auftrag für deine erste Soloarbeit.«
»Worum geht es?« Ich war vor einem Jahr so weit? Das war die Art, wie Blint Komplimente machte, wenn er es denn überhaupt je tat. Und im Allgemeinen folgte selbst einem widerwilligen Kompliment irgendeine Kritik.
»Es ist in der Burg, und es muss heute erledigt werden. Deine ›Leiche‹ ist sechsundzwanzig Jahre alt, keine militärische Ausbildung, sollte unbewaffnet sein. Aber sie ist wohlgelitten, eine emsige kleine Biene. Sehr emsig. Ein Meuchelmörder würde weitere Todesfälle mit in Kauf nehmen.« Er sprach das Wort Meuchelmörder mit einem Hohngrinsen aus, wie jeder Blutjunge es tun würde. »Aber für den Kontrakt spielt es keine Rolle. Die ›Leiche‹ muss einfach sterben. Erledige einfach den Auftrag.«
Kylars Herz hämmerte. So würde es also sein. Dies war keine simple Prüfung. Es hieß nicht: Kann Kylar allein töten? Es hieß: Kann Kylar tun, was ein Blutjunge tut? Kann Kylar eine passende Zugangsstrategie entwerfen (und hier ging es um nichts Geringeres als um die Burg selbst), kann er allein töten, kann er es tun, ohne Unschuldige zu töten, kann er nach getaner Tat
entkommen? Oh, und kann er seine Magie benutzen, der wahre Maßstab dessen, was einen Blutjungen von einem gewöhnlichen Meuchelmörder unterschied...
Wie zur Hölle denkt Blint sich diese Dinge aus? Der Mann hatte eine geniale Begabung, Kylars Schwächen auszugraben und auszubeuten, insbesondere seine größte Schwäche überhaupt: Kylar war noch nicht in der Lage gewesen, seine Magie zu benutzen. Nicht ein einziges Mal. Sie hätte mittlerweile reifen müssen, sagte Blint. Er trieb Kylar ständig auf neue Arten an und hoffte, dass irgendein neues extremes Gefühl - Anspannung oder Verlangen - die Begabung dazu bringen würde, sich endlich zu zeigen. Bisher hatte nichts funktioniert.
Durzo hatte sich laut gefragt,
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