Der Weg in Die Schatten
einer Illusion verursacht. Die Illusion ist Bedeutung, Kylar. Es gibt keinen höheren Zweck. Es gibt keine Götter. Keine Gebieter über Recht und Unrecht. Ich verlange nicht von dir, dass dir die Realität gefällt. Ich verlange lediglich von dir, stark genug zu sein, um sich ihr zu stellen. Jenseits von dem hier gibt es nichts. Es gibt nur die Perfektion, die wir erlangen, indem wir zu Waffen werden, so stark und gnadenlos wie ein Schwert. Dem Leben wohnt nichts prinzipiell Gutes inne. Leben an sich ist nichts. Es ist ein Platzhalter, der beweist, wer gewinnt, und wir sind die Gewinner. Wir sind immer die Gewinner. Es gibt nichts außer dem Gewinnen. Selbst das Gewinnen bedeutet nichts. Wir gewinnen, weil es eine Beleidigung ist zu verlieren. Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Die Mittel heiligen nicht den Zweck. Es gibt niemanden, vor dem wir uns rechtfertigen müssen. Es gibt keine Rechtfertigung. Es gibt keine Gerechtigkeit. Weißt du, wie viele Menschen ich getötet habe?«
Kylar schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Früher wusste ich es. Ich konnte mich an den Namen einer jeden Person erinnern, die ich außerhalb der Schlacht getötet hatte. Dann waren es irgendwann zu viele. Ich habe mir nur die Zahl gemerkt. Danach habe ich mir nur die Unschuldigen gemerkt. Danach habe ich selbst das vergessen. Weißt du, welche Strafen ich für meine Verbrechen, meine Sünden erduldet habe? Überhaupt keine. Ich bin ein Beweis für die Absurdität derjenigen Abstraktionen, die den Menschen so viel
bedeuten. Ein gerechtes Universum würde meine Existenz nicht dulden.« Er ergriff Kylars Hände. »Auf die Knie«, befahl er.
Kylar kniete sich an den Rand einer Pfütze des Blutes, das aus dem Körper der Frau sickerte.
»Dies ist deine Taufe«, sagte Master Blint und drückte Kylars Hände in das Blut. Es war warm. »Dies ist deine neue Religion. Wenn du beten musst, bete, wie die anderen Blutjungen es tun. Bete Nysos an, den Gott des Blutes, des Samens und des Weins. Diese Dinge haben zumindest Macht. Nysos ist eine Lüge wie alle Götter, aber wenigstens macht er dich nicht schwach. Heute bist du zu einem Meuchelmörder geworden. Jetzt geh und wasch dir die Hände nicht. Und noch etwas: Wenn du einen Unschuldigen töten musst, lass ihn nicht reden.«
Kylar torkelte wie ein Betrunkener durch die Straßen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er sollte etwas empfinden, aber stattdessen war da nur Leere. Es war, als sei das Blut an seinen Händen aus irgendeiner seelischen Wunde gequollen.
Das Blut trocknete jetzt und wurde klebrig, und das leuchtende Rot färbte sich überall braun, nur nicht in den Innenseiten seiner geballten Fäuste. Er versteckte die Hände, versteckte das Blut, versteckte sich selbst, und sein Geist - weniger taub als sein Herz - wusste, dass auch dies einen Sinn hatte. Er würde ein Blutjunge sein, und er würde sich immer verstecken. Kylar selbst war eine Maske, eine Identität, die er aus Gründen der Zweckmäßigkeit angenommen hatte. Diese Maske und jede andere würden passen, denn bevor seine Ausbildung abgeschlossen war, würde alles, was Azoth ausgemacht hatte, ausgelöscht sein. Jede Maske würde passen, jede Maske würde jeden Begutachter täuschen, denn unter diesen Masken würde nichts sein.
Kylar konnte seine Tarnung als Kurier im Labyrinth nicht
gebrauchen - kein Kurier ging jemals ins Labyrinth -, daher machte er sich auf den Weg zu einem auf der Ostseite gelegenen sicheren Haus in einem Block voller winziger Häuser von Handwerkern und jenen Dienern, die nicht auf den Anwesen ihrer Herren untergebracht waren. Er umrundete eine Ecke und lief direkt in ein Mädchen hinein. Sie wäre der Länge nach hingeschlagen, hätte er sie nicht an den Armen festgehalten.
»Entschuldige«, sagte er. Sein Blick erfasste das schlichte, weiße Dienstbotinnenkleid, das zurückgebundene Haar und einen Korb voller frischer Kräuter. Zuletzt sah er die blutigen roten Flecken, die er auf ihren Ärmeln hinterlassen hatte. Bevor er verschwinden und die Straße hinunterlaufen konnte, bevor sie sah, wie schmutzig er sie gemacht hatte, drangen die Bögen und Kreuze der Narben auf ihrem Gesicht in sein Bewusstsein.
Sie waren jetzt weiß und wulstig, wo sie sich als tiefe, rote, entzündete Schnittwunden, aufgeplatztes Gewebe, tröpfelndes Blut in seinen Geist eingebrannt hatten. Er hatte nur kurz Zeit, die unverkennbaren Narben und die unverkennbaren großen braunen Augen zu sehen.
Puppenmädchen
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