Der Weg ins Dunkel
größer. Es war, als hätte man es mit einem Schizophrenen zu tun.
René hatte sich vorgenommen, Luca stets im Auge zu behalten, aber momentan hatte er andere Probleme. Er saß auf dem Soziussitz des vorderen Motorrads und versuchte, nicht herunterzufallen. Die Maschine drohte unter seinem Gewicht nach hinten zu kippen, und der Fahrer beugte sich zum Ausgleich weit über den Lenker. Andauernd fürchtete René in dem chaotischen Verkehr einen Zusammenstoß, fluchte und beschimpfte den Fahrer in einem fort und wies ihn auf alle möglichen Gefahren hin. Inzwischen hielt er die Augen geschlossen und schaffte es trotzdem, sich eine Zigarette anzuzünden.
Beide Motorräder fuhren stadtauswärts, vorbei an endlosen Siedlungen mit Elendshütten, die aus allem zusammengezimmert waren, was die Bewohner hatten finden können. Kilometerweit zogen sich diese Behausungen hin. Manche waren nicht mehr bewohnt, andere nie fertig gebaut worden, aber in den meisten lebten Menschen, die an einem Herdfeuer Essen zubereiteten oder ihre Kinder betreuten. Hier und da saß jemand vor einer Hütte und wartete – worauf auch immer.
Als sie die letzte Siedlung dieser Art passiert hatten, kam hinter dem Wald linker Hand der stille Kivusee in Sicht. Dass er düster und unheimlich wirkte, lag an den schweren Wolken, die tief über ihm hingen und die Wasseroberfläche fast zu berühren schienen. Donner grollte, jeden Moment würde es anfangen zu regnen, und dann würde sich die Straße im Nu in eine einzige Schlammfläche verwandeln.
Plötzlich bog das Motorrad, auf dem René saß, von der Straße in einen staubigen Weg ab. Emmanuels Maschine folgte und umkurvte in halsbrecherischer Fahrt eine Ansammlung tiefer Schlaglöcher. Auf der Straße bewegten sich etliche Lieferwagen im Schritttempo voran und stießen dichte Dieselwolken aus. Daneben schoben halbnackte Männer klapprige Holzkarren, die mit Kohlesäcken beladen waren. Die Männer waren schlank und muskulös, ihre braune Haut glänzte vor Schweiß. Man konnte ihnen ansehen, wie anstrengend es war, die schweren Karren in Gang zu halten, aber sie machten immer weiter, ohne Pausen einzulegen. Nur wenn jemand einen der Flip-Flops verlor, die ihr Schuhwerk darstellten, blieb er kurz stehen, um wieder hineinzuschlüpfen.
Der Weg, den die Motorräder nahmen, stieg leicht an, und als sie den Scheitelpunkt der Anhöhe erreichten, kamen Dutzende, Hunderte weißer Zelte in Sicht. Sie reichten so weit, wie das Auge sehen konnte, erstreckten sich jenseits des Hügels in alle Richtungen und verschwanden in der Ferne in den tief hängenden Wolken. Im Näherkommen erkannten die Motorradfahrer den Schriftzug UNHCR auf den Zelten – ein UN -Flüchtlingslager.
«Kibati», sagte Emmanuel und machte eine ausladende Handbewegung.
Von Jack Milton wusste Luca, dass es Joshuas letzter Einsatzort für
Ärzte ohne Grenzen
gewesen war. Von hier aus hatte er sich nach Norden aufgemacht und war dann verschwunden.
Am Eingang des Lagers stand eine kleine Hütte mit der Aufschrift
Gendarmes
, aber die Tür war fest verschlossen, und es war kein Polizist in Sicht. Emmanuel und der andere Fahrer machten sich auf die Suche nach einem Arzt, während René und Luca bei den Motorrädern blieben.
Die Flüchtlinge nahmen kaum Notiz von ihnen. Wenn doch einer zu ihnen herübersah, lächelte René betreten. Dann kam ein kleiner Junge, der ein schmutziges Plastiktablett hinter sich herzog, auf sie zu. Er trug ein zerrissenes T-Shirt und Flip-Flops in verschiedenen Größen.
«Bonbons? Stylo?»
, fragte er und hob erwartungsvoll die Hand.
Luca sah René fragend an. Er verstand kein Französisch.
«Er fragt nach Süßigkeiten oder einem Stift», übersetzte René und klopfte suchend seine Taschen ab. Schließlich gab er dem Jungen eine Zigarette und tätschelte ihm väterlich den Kopf.
«Herrgott, René! Er ist höchstens fünf», protestierte Luca. «Du kannst ihm doch keine Zigarette geben!»
«Ich habe nichts, was er gebrauchen kann, aber er wird die Zigarette mit einem Teenager tauschen. Wir sind im Kongo, mein Freund. Hier ist alles etwas wert.»
Er holte eine zweite Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. Beim ersten tiefen Zug ließ er den Blick über das weiße Meer der Zelte schweifen.
«Das sind die Nachwehen von Ruanda», sagte er sichtlich erschüttert. «Ursprünglich wurden diese Lager für die Hutus errichtet, die über die Grenze strömten, als sie die Tutsi abgeschlachtet hatten. Fast eine
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