Der Weg ins Dunkel
Assistent reichte ihm eine sterile Nadel.
Christophe zögerte einen Moment. Dann sagte er:
«Désolé, mais ceci te fera grand mal.»
Tut mir leid, aber es wird furchtbar weh tun.
Der Junge nickte und ballte die Hände auf dem OP -Tisch zu Fäusten.
«Eins müssen Sie wissen», sagte Christophe über die Schulter, als er dem Jungen die Nadel ins Fleisch stach. «Die Verhältnisse hier im Land haben sich geändert. Joshua ist im Gebiet nördlich des Kongoflusses verschollen, irgendwo im Ituriwald. Das ist ein Gebiet, das heute kein Mensch mehr betritt. Wirklich niemand! Nicht einmal die UN -Truppen wagen dort zu patrouillieren.»
«Warum?», fragte René. «Was macht die Gegend so gefährlich?»
«Die LRA », sagte Christophe.
«Die was?», fragte Luca.
«The Lord’s Resistance Army»
, erklärte René und kratzte sich die Bartstoppeln. «Die Widerstandsarmee Gottes. Eine üble Meute aus dem Norden Ugandas, mit einem der blutrünstigsten Bastarde der Welt als Anführer, Joseph Kony. Ich hab mal Fotos von ihm gesehen, die ein durchgeknallter Kriegsfotograf gemacht hat, den Kony zu einem Interview empfangen hatte. Sie entführen Kinder und zwingen sie, die eigenen Eltern umzubringen. Dann pumpen sie sie mit Drogen voll und schicken sie zum Kämpfen an die Front. Fluchtgefahr besteht kaum. Wo sollen sie auch hin? Zu Hause können sie sich nie wieder blicken lassen.»
Christophe warf René einen kurzen Blick über die Schulter zu und sagte: «Sie wissen ja gut Bescheid.»
«Ja, leider. Aber die LRA treibt doch schon seit Jahren ihr Unwesen. Was ist plötzlich so anders?»
«Nachdem sie aus Uganda vertrieben wurde, hat sie versucht, auf der kongolesischen Seite der Grenze ein Basislager einzurichten. Aber Kony war geschlagen und hatte nur noch völlig fertige Kindersoldaten und eine Handvoll getreuer Offiziere um sich. Sie konnten nichts mehr ausrichten, und alle Welt dachte, der Krieg sei vorbei.» Christophe schüttelte den Kopf, bevor er weitersprach. «Dann hieß es, Kony sei ermordet worden. Jedenfalls kam ein neuer Anführer, und die Dinge änderten sich. Besser gesagt: Sie wurden schlimmer. Viel schlimmer.»
«Wer ist denn der neue Anführer?», fragte Luca.
«Man weiß praktisch nichts über ihn, nur, wie er heißt – Mordecai.»
Ruckartig richtete sich der Junge auf dem OP -Tisch auf und starrte die Männer an, außer sich vor Angst. Er rief nach seiner Mutter, und Tränen strömten ihm über die staubigen Wangen. Christophe nahm seine Schultern und legte ihn behutsam wieder hin.
«Calme-toi»
, sagte er sanft. Beruhige dich.
«Calme-toi.»
Der Junge zitterte am ganzen Körper, unfähig, seiner Gefühle Herr zu werden. Immer wieder heulte er laut auf, wölbte den Rücken und trat mit den Beinen aus, sodass zwei Stiche wieder aufrissen. Das Fleisch quoll heraus, und Blut floss auf den OP -Tisch. Der Junge schrie immer lauter und begann den Hinterkopf auf den Tisch zu schlagen, während er immer wieder nach seiner Mutter rief.
«Jesus!», stöhnte Christophe und schnippte mit den Fingern in Richtung seines Assistenten. «Mehr Morphium! Schnell!»
Kaum hatte der Junge die Spritze im Arm, wurde er ruhiger. Christophe beobachtete ihn eine Weile, dann drehte er sich zu den anderen um.
«Ich kenne keinen anderen Namen, der so viel Angst auslöst. Alle, die hierherkommen, kennen diesen Namen. Manche stammeln ihn pausenlos vor sich hin.» Wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er selbst nicht glauben, was er da sagte. «Manchmal denke ich, er ist der Teufel persönlich.»
«Wo kommt dieser Kerl denn her?», fragte René.
«Das weiß man nicht. Manche sagen, er sei Offizier unter Kony gewesen, andere sagen, er stamme aus dem Südsudan. Aber wie auch immer er an die Macht gekommen ist, eins steht fest: Irgendein Wohltäter versorgt die LRA mit viel Geld und modernen Waffen. Sie wird ständig stärker und geht immer siegreich aus Kämpfen mit anderen Milizen hervor. Irgendwann hat sie angefangen, wehrlose Dörfer zu überfallen, die hinterher völlig menschenleer waren – kein Mann, keine Frau, kein Kind blieb verschont. Einige Monate darauf wurden Leichen ans Flussufer geschwemmt. Alle hatten große Schwellungen am Kopf, meist an den Schläfenlappen. Niemand weiß, woher diese Schwellungen stammten, aber bei allen Leichen waren sie praktisch identisch.» Christophe starrte vor sich hin. «Ich hätte seinen Namen nicht erwähnen dürfen. Aber jetzt kennen Sie ihn wenigstens, und ich wünsche
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