Der Weg ins Dunkel
Million flüchtete sich allein in dieses Lager, um Vergeltungsschlägen der Ruandischen Patriotischen Front zu entgehen. Heute leben hier überwiegend Kongolesen, die von marodierenden Milizen aus ihren Dörfern vertrieben worden sind.»
Er blies den Rauch aus und blickte weiter über die endlose Zeltstadt. «Es hört einfach nie auf. Dutzende Stämme und Interessengruppen, die sich gegenseitig bekämpfen, bis sie längst vergessen haben, worum es ursprünglich einmal ging … Es ist das blutigste Durcheinander unseres Planeten, und das hier sind nur einige der Leidtragenden. Fast sechs Millionen Tote in den letzten acht Jahren, aber außerhalb Afrikas nimmt davon kaum jemand Notiz.»
Luca folgte seinem Blick und sah ein paar Männer, die im Schatten eines offenen Zeltes saßen. Der kleine Junge war zu ihnen gegangen und tauschte seine Zigarette.
Aus der Ferne war immer noch das Donnergrollen zu hören, und der Himmel war so schwarz, dass es jeden Moment einen Wolkenbruch geben musste.
«Das stimmt», sagte Luca. «Aber du scheinst eine Menge darüber zu wissen.»
René zuckte mit den Schultern. «Vergiss nicht, dass ich Belgier bin. Der Kongo war eine belgische Kolonie, und du kannst mir glauben, dass wir uns hier nicht besser benommen haben. Damals ging es um Gummi und Elfenbein. Das Schicksal Afrikas – die Ausplünderung durch den weißen Mann. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Es ist nur unübersichtlicher geworden, und die Afrikaner mischen jetzt selber mit. Auf die Anzahl der Toten hat das aber keinerlei Auswirkung, die bleibt immer gleich.»
Wie zur Untermauerung seiner Aussage blickte er wieder über die endlose Zeltstadt und schwieg eine Weile.
«Erst wir, dann dreißig Jahre lang dieser kleptomanische Mobutu, und nun unzählige Milizen, die jeden töten, den sie in die Finger kriegen.» Er zeigte auf die Zelte. «Was du hier siehst, Luca, sind Menschen, die im Leben kaum etwas anderes als Mord und Vertreibung erlebt haben.» Er lächelte bitter. «Als hätte es den Teufel eines Tages zufällig in den Kongo verschlagen, und es gefiel ihm so gut, dass er beschloss, sich hier auf Dauer niederzulassen.»
Ein gellender Pfiff ertönte. Sie drehten sich um und sahen Emmanuel in ihre Richtung gestikulieren. Daraufhin ließen sie die Motorräder stehen und gingen auf die schäbigen Zelte zu. Steine und Spannleinen lagen ihnen im Weg, und sie mussten aufpassen, wohin sie traten. Luca blickte sich um und sah in die offenen Zelte. Hier und da hob jemand den Kopf und erwiderte seinen Blick. Er sah stolze Menschen, aber auch gebrochene, alte und kranke. Doch so verschieden sie auch waren, begriff Luca, dass alle eine Lebensgeschichte hinter und auch noch vor sich hatten, deren Tragik er kaum ermessen konnte.
Emmanuel führte sie zu einem freien Platz in der Mitte des Lagers, auf dem ein großes Lazarettzelt stand. Unter der Plane des Vordachs wartete eine lange Schlange Verwundeter und Kranker geduldig auf Behandlung. Am Eingang stand ein Weißer und rauchte. Er trug einen Arztkittel und ein Stethoskop um den Hals und starrte blicklos und erschöpft in die Ferne. Erst als René und Luca direkt vor ihm standen, bemerkte er sie.
René stellte sich und Luca vor und fragte den Arzt, ob er einen Moment Zeit für sie hätte.
«Doktor Sabian», sagte der Mann mechanisch, und als er René die Hand gab, war es fast so, als wollte er sich festhalten. «Christophe Sabian.» Er sah Luca an, der mit gesenktem Blick dastand. «Ich höre Ihnen zu, bis ich meine Zigarette aufgeraucht habe. Heute Morgen hat es in Bunia ein Massaker gegeben. Meine Freizeit hält sich in Grenzen.»
«Oh, das tut mir leid», sagte René.
«Warum? Sie haben das Massaker ja nicht angerichtet.»
«Ich verstehe, dass es ein ungünstiger Moment ist», sagte René. «Aber wir brauchen dringend ein paar Informationen.» Er holte einen kleinen Notizblock aus der Tasche, und Christophes Miene verdüsterte sich.
«Super», sagte er. «Noch mehr Reporter.» Ehe René widersprechen konnte, hob Christophe warnend die Hand. «Ich verbiete Ihnen, wieder Frauen zu interviewen. Der Letzte, der im Auftrag von Reuters hier war, hätte genauso gut ein großes Plakat für die Ehemänner aufstellen können, damit sie genau wissen, welche Frau eine Vergewaltigung hinter sich hat.» Vor Wut wurde sein Gesicht ganz rot, und er warf seine Zigarette auf den Boden. «Ihr wisst doch, dass die Männer ihre Frauen verstoßen, wenn sie vergewaltigt worden sind,
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