Der Weg Nach Tanelorn
verehelichen. Dächte ich an eine zweite Heirat, wüsste ich wahrhaftig keine bessere Gattin als Flana. Aber an meinem schon vor vielen Jahren gefassten Entschluss, zurückgezogen in der Kamarg zu leben, hat sich nichts geändert. Außerdem habe ich die Verantwortung für die Menschen hier. Dürfte ich mich meiner Pflichten denn einfach entledigen?«
»Wir könnten sie übernehmen, wie wir es bereits einmal taten, als du …« Sie verstummte.
»Als ich tot war?« Graf Brass runzelte die Stirn. »Ich bin dankbar, dass ich keine solchen Erinnerungen an dich habe, Yisselda. Als ich aus Londra zurückkehrte und dich hier fand, war ich überglücklich. Ich suchte nach keiner Erklärung. Mir genügte es, dass du lebst. Aber andererseits hatte ich dich vor einigen Jahren in der Schlacht von Londra selbst fallen gesehen. Doch das war eine Erinnerung, die ich nur zu gern bezweifelte. Eine Erinnerung an Kinder wiederum – von solchen Gedanken heimgesucht zu werden, zu wissen, dass sie irgendwo voll Angst leben –, nein das ist zu grauenvoll!«
»Es ist ein uns bereits vertrautes Gefühl«, sagte Falkenmond. »Wir können nur hoffen, dass wir sie finden; hoffen, dass sie nichts von all dem wissen; hoffen, dass sie glücklich sind, auf welcher Ebene sie sich jetzt auch befinden.«
Es klopfte an der Tür. »Herein« rief Graf Brass mit rauer Stimme.
Hauptmann Josef Vedla trat ein. Er schloss die Tür hinter sich und blieb einen Augenblick stumm stehen. Der alte Recke trug, was er sein »Zivil« nannte – Hirschlederhemd, Wildlederwams und – Beinkleider und Stiefel aus altem, schwarzem Leder. Ein langer Dolch steckte im Gürtel. »Der Ornithopter ist gleich bereit«, meldete er. »Er wird euch nach Karlye bringen. Die Silberbrücke ist in ihrer alten Schönheit wiederaufgebaut. Wenn Ihr möchtet, Herzog Dorian, könnt ihr sie nach Deau-Vere überqueren.«
»Danke, Hauptmann Vedla. Es wird mir ein Vergnügen sein, die gleiche Route zu nehmen wie damals, als ich zum ersten Mal in die Kamarg kam.«
Yisseldas Hand lag noch in der ihres Vaters. Sie streckte die andere nach Falkenmond aus. Ihre klaren Augen musterten kurz sein Gesicht, und sie drückte seine Hand. Er atmete tief. »Dann müssen wir aufbrechen.«
»Da ist noch etwas …« Josef Vleda zögerte.
»Noch etwas?«
»Ein Reiter, Herzog Dorian. Unsere Hüter sahen ihn. Ihre Heliographmeldung kam vor wenigen Minuten an. Er nähert sich der Stadt.«
»Wo hat er die Grenze überschritten?« erkundigte sich Graf Brass.
»Das ist ja das Sonderbare. Man hat ihn an der Grenze nirgends gesehen. Er war schon den halben Weg in der Kamarg, ehe man ihn entdeckte.«
»Das ist allerdings ungewöhnlich. Unsere Hüter sind normalerweise äußerst wachsam.«
»Das waren und sind sie auch heute. Er kam nicht auf einer der üblichen Straßen.«
»Nun, zweifellos’ werden wir die Möglichkeit haben, ihn zu fragen, wie er es fertig brachte, nicht gesehen zu werden«, sagte Yisselda ruhig. »Schließlich ist er nur ein Reiter, keine ganze Armee.«
Falkenmond lachte. Einen Augenblick waren sie alle übermäßig besorgt gewesen. »Lasst ihm entgegenreiten, Hauptmann Vedla. Ladet ihn auf die Burg ein.«
Vedla salutierte und verließ den Raum.
Falkenmond schritt ans Fenster und blickte über die Dächer von Aigues-Mortes auf die Felder und Lagunen jenseits der alten Stadt. Der Himmel war von einem klaren, kräftigen Blau, das das ferne Wasser widerspiegelte. Ein schwacher Winterwind neigte das Schilfrohr. Er bemerkte eine Bewegung auf der breiten weißen Straße, die durch die Marschen zur Stadt führte. Er sah den Reiter. Er kam rasch in einem gleichmäßigen Galopp daher. Aufrecht und stolz saß er im Sattel. Und seine Haltung erschien Falkenmond vertraut. Doch aus dieser Entfernung war noch zu wenig zu erkennen. Falkenmond musste sich gedulden, bis er näher war. »Er erinnert mich an jemanden, aber ich bin mir nicht klar, an wen.«
»Er hat sich nicht angemeldet.« Graf Brass zuckte die Schultern. »Aber es ist ja nicht mehr wie früher. Die Zeiten sind friedlicher.«
»Für manche«, murmelte Falkenmond und ärgerte sich sogleich über das Selbstmitleid, das aus diesen Worten klang. Zu lange hatte er sich ihm hingegeben, und nun, da er es endlich überwunden glaubte, war er überempfindlich, wenn sich doch immer wieder Nachwehen bemerkbar machten. Denn hatte er sich früher von diesem Gefühl völlig überwältigen lassen, so lehnte er es nun ab und zeigte eine absolute
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