Der Weg Nach Tanelorn
bewusst. Aber wie kann man das einem kranken Gehirn klarmachen?« gab Graf Brass zu bedenken. »Je länger er allein in seinen Gemächern verharrt und mit diesen verdammten Zinnsoldaten spielt, desto schlimmer wird es mit ihm. Und je kränker er wird, desto schwieriger ist es wiederum für uns, ihm mit Vernunft beizukommen. Die Jahreszeiten bedeuten ihm überhaupt nichts. Er bemerkt nicht einmal, ob es Tag oder Nacht ist. Ich schaudere, wenn ich nur daran denke, was in seinem Kopf vorgeht.«
Hauptmann Vedla nickte. »Er war früher alles andere als verinnerlicht. Er war ein Mann! Ein Krieger! Ein praktischer Mann mit gutem Menschenverstand! Manchmal scheint er mir fast ein völlig anderer Mensch zu sein. Als wäre die alte Falkenmond-Seele durch das Grauen des Schwarzen Juwels aus seinem Körper vertrieben und durch eine andere Seele ersetzt worden!«
Graf Brass musste lachen. »Ihr entwickelt ja geradezu Phantasie in Euren alten Tagen, Hauptmann. Ihr habt den früheren Falkenmond bewundert, weil er ein Praktiker war – und nun kommt Ihr selbst mit solchem Unsinn!«
Hauptmann Vedla zwang sich zu einem Lächeln. »Das habe ich wohl verdient. Aber wenn man die Macht der ehemaligen Lords des Dunklen Imperiums bedenkt – und die übernatürlichen Kräfte jener, die uns im Kampf beistanden, ist mein Gedankengang vielleicht gar nicht so abwegig.«
»Möglich. Und gäbe es nicht offensichtlichere Erklärungen für Falkenmonds Zustand, würde ich Eurer Theorie möglicherweise beipflichten.«
Ein wenig verlegen murmelte Hauptmann Vedla: »Es war wirklich nur eine Theorie.« Er hob sein Glas, dass das flackernde Feuer sich in ihm fing, und betrachtete den schweren roten Wein darin. »Und dieses Zeug ist zweifellos daran schuld, dass ich es überhaupt wage, diese Theorien zu äußern.«
»Da wir von Granbretanien sprachen«, sagte Graf Brass ein wenig später, »würde es mich interessieren, wie Königin Flana mit ihrem Problem der Unbelehrbaren zurechtkommt, die sich heimlich im schwer zugänglichen Untergrund Londras treffen oder dort sogar hausen, wie sie in ihren Briefen schrieb. In den letzten Monaten habe ich kaum von ihr gehört. Ich frage mich, ob die Situation sich verschlechtert hat, so dass sie ihr mehr Zeit widmen muss.«
»Habt Ihr denn nicht einen Brief von ihr erhalten?«
»Ja, durch Kurier, vor zwei Tagen. Aber er war viel kürzer als gewöhnlich. Er schien mir fast förmlich. Sie lud mich nur wie üblich ein, sie zu besuchen, wann immer ich Lust dazu verspüre.«
»Könnte es vielleicht sein, dass sie sich ein wenig gekränkt fühlt, weil Ihr ihre Einladung noch nicht angenommen habt?« meinte Vedla. »Möglicherweise glaubt sie, Eure Freundschaft für sie sei abgekühlt?«
»Keineswegs, sie ist nach meiner toten Tochter meinem Herzen am nächsten.«
»Aber weiß sie das? Habt Ihr es ihr schon einmal geschrieben?« Vedla schenkte sich Wein nach. »Frauen brauchen solche, Bestätigungen, glaubt es mir. Selbst Königinnen.«
»Flana ist über so etwas hinaus. Sie ist zu intelligent. Zu warmherzig.«
»Hm«, brummte Hauptmann Vedla, und es klang, als bezweifle er Graf Brass’ Worte.
Graf Brass entging der Unterton nicht. »Ihr glaubt, ich sollte ihr vielleicht in – in blumigerer Sprache schreiben?«
»Nun …« Hauptmann Vedla grinste.
»Ich bin nicht sehr einfallsreich, was poetische Ausschmückungen angeht«, murmelte Graf Brass.
»Euer Stil – egal, welches Thema Ihr behandelt – ähnelt gewöhnlich Befehlsvermittlungen während der Hitze einer Schlacht«, musste Hauptmann Vedla zugeben, und er grinste dabei. »Ich meine das natürlich nicht als Beleidigung. Ganz im Gegenteil.«
Graf Brass zuckte die Schultern. »Ich möchte nicht, dass Flana glaubt, ich denke nicht mit der größten Zuneigung an sie. Aber ich kann es ihr nicht schreiben. Vielleicht sollte ich tatsächlich ihre Einladung annehmen und sie in Londra besuchen?« Er blickte sich in der halbdunklen Halle um. »Es wäre sicher eine angenehme Abwechslung. Irgendwie ist die Burg nicht mehr so freundlich und heimisch wie früher – ja, in letzter Zeit ’finde ich sie sogar bedrückend.«
»Ihr könnt Falkenmond mit Euch nehmen. Er mochte Flana. Das wäre eine Möglichkeit, ihn von seinen Zinnsoldaten wegzulocken.« Hauptmann Vedla hörte den Spott aus seiner eigenen Stimme und schämte sich. Er empfand große Sympathie für Falkenmond, und zweifellos Respekt, selbst in dessen jetzigem Zustand. Aber Falkenmonds düstere
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