Der Weg Nach Tanelorn
Falkenmond drehte sich wieder um und sah Graf Brass an. Der Graf spürte, wie es ihm kalt ums Herz wurde, als er in das eingefallene weiße Gesicht und die glühenden Augen blickte, die tief in den Höhlen lagen.
»O Falkenmond«, murmelte er. »O Falkenmond.«
Ohne ein weiteres Wort schritt er zur Tür.
Ehe er sie hinter sich schloss, hörte er noch Falkenmonds hysterisch klingende. Stimme.
»Ich werde sie finden, Graf Brass!«
Am nächsten Tag zog Falkenmond die Vorhänge ein wenig zur Seite, um durch das Fenster auf den Hof hinunterzublicken. Graf Brass brach auf. Sein Gefolge saß bereits auf den edlen Pferden, deren Samt- und Satindecken die Farben des Grafen aufwiesen – ein Rot in mehreren Tönen. Wimpel und Bänder flatterten von den Flammenlanzen in ihren Sattelhüllen. Und der Wind bauschte die Umhänge der Männer, so dass die frühe Morgensonne sich auf den glänzenden Rüstungen spiegeln konnte. Die Pferde stampften ungeduldig und schnaubten. Diener eilten geschäftig herum und reichten den Reitern zur inneren Erwärmung dampfende Getränke. Und dann trat Graf Brass auf den Hof und schwang sich auf seinen rotbraunen Hengst. Seine Messingrüstung flammte in der Sonne, als stünde sie in Feuer. Der Graf blickte zum Fenster hinauf, und sein Gesicht wirkte nachdenklich. Dann strafften sich seine Züge, als er sich zu seinen Leuten umdrehte, um einen Befehl zu erteilen. Und Falkenmond sah ihnen allen weiter zu.
Während er hinunter auf den Hof schaute, konnte er sich von dem Eindruck nicht lösen, besonders feingearbeitete Modelle vor sich zu haben. Modelle, die sich bewegten und redeten, die aber eben trotzdem nur Modelle wie seine Zinnfiguren waren. Ihm schien, als brauchte er nur hinunterzugreifen und einen der Reiter hochzuheben. Vielleicht Graf Brass selbst, um ihn in eine ganz andere Richtung als Londra zu schicken. Er hegte einen vagen, unbestimmten Groll gegen seinen alten Freund, den er sich nicht erklären konnte. Manchmal träumte er, dass Graf Brass sich sein Leben mit dem seiner Tochter erkauft hatte. Aber wie sollte das möglich sein? Außerdem war das etwas, das Graf Brass nie zuzutrauen wäre. Ganz im Gegenteil, der alte Haudegen hätte ohne lange Überlegungen sein Leben für jemanden, der ihm nahe war, gegeben. Und trotzdem spukte dieser Gedanke immer wieder in Falkenmonds Kopf herum.
Einen flüchtigen Moment empfand er fast ein wenig Bedauern – vielleicht hätte er Graf Brass doch nach Londra begleiten sollen? Er sah zu, wie Hauptmann Vedla befahl, das Fallgitter zu heben. Graf Brass hatte Falkenmond gebeten, sich während seiner Abwesenheit um Burg und Land zu kümmern. Aber die Dienstboten auf der Burg und die Hüter der Kamarg konnten sehr wohl ohne ihn zurechtkommen, ohne seine Entscheidungen zu brauchen.
Jetzt war auch keine Zeit für Entscheidungen und Handlungen, sondern für Überlegungen. Falkenmond war entschlossen, einen Weg durch diese Vorstellungen zu finden, die er in seinem Kopf verborgen fühlte und die er doch irgendwie – noch – nicht erreichen konnte. So sehr seine alten Freunde auch sein »Spiel mit den Zinnsoldaten« verachteten, er wusste, dass er durch sie – indem er sie in immer neuen Aufstellungen bewegte – diese sich ihm immer entziehenden Gedanken einmal zu fassen bekäme. Und sie würden ihm die Wahrheit seiner eigenen Situation verraten. Verstand er diese erst, würde er Yisselda lebend wieder finden. Und er war sich fast sicher, dass er auch zwei Kinder entdecken würde – einen Jungen und ein Mädchen, wenn er sich nicht täuschte. Alle hatten sie ihn für wahnsinnig gehalten – fünf Jahre lang. Er war jedoch überzeugt, dass er es nicht gewesen war. Er glaubte, sich selbst zu gut zu kennen – und wenn der Wahnsinn ihn jemals erfassen sollte, dann auf eine andere Weise, als seine Freunde es für möglich hielten.
Nun winkten Graf Brass und sein Gefolge den Zurückbleibenden zu, dann ritten sie durch das Tor.
Im Gegensatz zu Graf Brass’ Vermutung hielt Falkenmond sehr viel von seinem alten Freund, und es schmerzte ihn ein wenig, ihn fortreiten zu sehen. Aber Falkenmonds Problem war, dass er seine Gefühle nicht mehr zeigen und ausdrücken konnte. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Überlegungen beschäftigt, mit seinem Problem, das er durch die Manipulationen der winzigen Figuren auf seinen Tischen zu lösen hoffte.
Falkenmond blickte Graf Brass und seinen Männern nach, als sie die Serpentinenstraße zur Stadt hinunter und
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