Der Weg Nach Tanelorn
der Stirn, wo einst das Schwarze Juwel eingebettet gewesen war. Seine Haut wirkte wächsern, die Augen brannten in einem erschreckenden, fieberigen Glanz. Er hatte so sehr abgenommen, dass seine Kleider schlotternd an ihm hingen. Er blickte hinab auf den Tisch, auf dem das ungemein komplexe Modell des alten Londra aufgebaut war, mit seinen Tausenden von verrückten Türmen, die durch ein Labyrinth von Tunneln miteinander verbunden waren, so dass keiner der Bürger sich dem Tageslicht hatte aussetzen müssen. Plötzlich wurde es Graf Brass klar, dass Falkenmond nun unter der Krankheit jener litt, die er geschlagen hatte. Es hätte ihn gar nicht gewundert, wenn Falkenmond anfinge, ähnliche reichverzierte Masken zu tragen, wie seine ehemaligen Gegner, die Tierlords.
»Londra hat sich verändert, seit Ihr es das letzte Mal gesehen habt«, versuchte Graf Brass zu Falkenmond durchzudringen. »Ich habe gehört, dass die Türme niedergerissen wurden, dass alle Straßen mit Blumenrabatten geschmückt sind, und an Stelle des Tunnels Grünflächen und Parks angelegt wurden.«
»Ja, das habe ich auch gehört«, erwiderte Falkenmond ohne Interesse. Er wandte sich von Graf Brass ab und begann eine Division Kavallerie des Dunklen Imperiums außerhalb der Mauern zu platzieren. Er schien von einer Situation auszugehen, in der das Dunkle Imperium Graf Brass und die anderen Diener des Runenstabs besiegt hatte. »Es muss sehr – hübsch aussehen. Aber ich persönlich ziehe es vor, mich an das frühere Londra zu erinnern.« Seine Stimme klang schneidend. »So wie es war, als Yisselda dort fiel.«
Graf Brass fragte sich, ob Falkenmond wohl vielleicht gar ihm die Schuld am Tod seiner Tochter gab – ihn verdächtigte, mit jenen zusammengearbeitet zu haben, die in der Schlacht gegen sie kämpften. Er unterdrückte seinen Unmut. »Aber die Reise selbst! Wäre das nicht eine großartige Abwechslung? Als Ihr die Welt dort draußen zum letzten Mal saht, lag sie in Ruinen. Jetzt steht alles in voller Blüte.«
»Ich habe hier wichtige Dinge zu tun«, murmelte Falkenmond.
»Welche Dinge?« Graf Brass’ Stimme klang bei dieser Frage fast scharf. »Ihr habt Eure Gemächer seit Monaten nicht verlassen.«
»In all dem liegt die Antwort«, erwiderte Falkenmond kurz, während er unwirsch auf den Tisch deutete. »Es gibt einen Weg, Yisselda zu finden.«
Graf Brass lief es kalt über den Rücken.
»Yisselda ist tot«, sagte er ‚’eise.
»Sie lebt«, widersprach Falkenmond. »Sie lebt. Irgendwo! An einem anderen Ort.«
»Wir waren uns einmal einig, Ihr und ich, dass es kein Leben nach dem Tod gibt«, erinnerte Graf Brass seinen Freund. »Außerdem – möchtet Ihr wahrhaftig einen Geist ins Leben zurückrufen? Würde es Euch beglücken, Yisseldas Schatten herbeizubeschwören?«
»Wenn das alles wäre, was ich zurückholen könnte – ja! Ich würde mich selbst damit zufrieden geben.«
»Ihr liebt eine Tote!« Graf Brass’ Stimme zitterte fast. »Und durch Eure Liebe zu ihr scheint Ihr mir nun in den Tod verliebt zu sein.«
»Was gibt es denn im Leben noch zu lieben?«
»Viel, sehr viel! Ihr würdet es selbst feststellen, wenn Ihr Euch entschließen könntet, mit mir zu reisen.«
»Ich habe kein Bedürfnis, Londra zu sehen. Ich hasse diese Stadt!«
»Dann begleitet mich zumindest einen Teil des Weges.«
»Nein. Meine Träume beginnen wiederzukehren. Und in diesen Träumen komme ich Yisselda ein wenig näher – und unseren zwei Kindern.«
»Es gab diese Kinder nie. Ihr habt sie erfunden. In Eurem Wahnsinn habt Ihr sie Euch ausgedacht.«
»Nein. Gestern Nacht träumte ich, ich hätte einen anderen Namen, sei jedoch der gleiche Mann. Ein seltsamer, archaischer Name war es. Ein Name vor dem Tragischen Jahrtausend. John Daker. Ja, das war er. Und John Daker fand Yisselda.«
Graf Brass brach es fast das Herz bei den aus dem Irrsinn geborenen Worten seines Freundes. »Diese Überlegungen, diese Träume bringen Euch nur noch größeres Leid, Dorian. Sie verschlimmern die Tragödie. Glaubt es mir, ich spreche die Wahrheit.«
»Ich weiß, dass Ihr es gut meint, Graf Brass. Ich achte Eure Einstellung und verstehe, dass Ihr glaubt, mir zu helfen. Aber ich bitte Euch einzusehen, dass Ihr das Gegenteil damit bewirkt. Ich muss diesem Weg folgen. Ich weiß, dass er mich zu Yisselda führt.«
»Ja«, murmelte Graf Brass voll Kummer. »Ich pflichte Euch bei. Er führt Euch in den Tod.«
»Ist das der Fall, habe ich nichts zu befürchten.«
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