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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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der mir gar nicht gut bekam — , und mein Blick fällt
auf meinen Bauch, um den sich schon Fangarme winden, herausgewachsen aus dem
freundlichen Kaktus auf meinem Rednerpult, der sich mittlerweile entpuppt hat
als halb fleischfressende Pflanze, halb außerirdischer Oktopus... Zeug von
dieser Sorte, nicht bedrohlich. Der Träumer sitzt in seinem Traumkinosessel und
gruselt sich ein bißchen. Dann geht das Licht an, kichernde Menschen verlassen
den Saal, draußen ist die Wirklichkeit mit ihren Ampeln, Sternen und Taxis. Das
Kaffeepulver wird in den Filter geschüttet, erst das Gesicht und dann das
weichgekochte Ei mit kaltem Wasser abgeschreckt, der Tag ist da, eitel und hell
klappt er sich durchs Fenster auf, ein Springmesser in der Hand des Großen
Pragmatikers. So werden meine Nachtschattenkäfer schnell entzweigeschnitten.
    Cinema is over, kaum proste ich
mit der dampfenden Tasse den bei mir am Boden sich windenden Insektenhälften
zu, da macht schon die Lichtgewalt Zisch!, die untoten Käferkadaver zerfallen
zu Staub, und meine Socken zeichnen plötzlich Muster in einen Dreck, der
garantiert nicht aus den Träumen stammt. So war es bisher.
    Dann kamen die wirklichen
Träume.
    Anfangs änderten sich weder das
Personal noch der Horrorfaktor. Ein gewisser Sicherheitsreflex, der bisher
selbst beim Besuch der widerwärtigsten Gespenster funktioniert hatte, war nicht
mehr nach Belieben abrufbar. Ich konnte der nächtlichen Heimsuchung nicht mehr
das nie ganz verschwundene Wissen entgegenhalten, mich in einem Traum zu
befinden. Wenn es mir bisher zu unangenehm wurde, die Angst an mir zu zerren
begann, trat dieses Wissen wie ein schwarzer Schutzengel an meine Seite und
flüsterte mir ins Ohr: »Ich glaube, es ist besser, wir wachen jetzt auf.« Schon
war der Alp verscheucht, gleichgültig, ob er in Gestalt eines gefräßigen
Ungeheuers oder meiner Mutter aufgetaucht war.
    Doch die rettende Hand zog mich
nicht immer in die Zone des Wachseins; hin und wieder versetzte sie mich
einfach in eine andere Traumlandschaft. Einmal besuchte mich ein
rivalisierender Kollege in meinem Sprechzimmer, ich war gerade im Begriff, in
mein Seminar zu gehen, er drückte mich in meinen Sessel, versperrte von innen
die Tür und begann die Fensterspalten mit einer Art Schlamm abzudichten. Unter
seinem Mantel zog er eine seltsame kleine Pumpe hervor, betätigte einen Hebel,
und sofort sprudelten Wassermassen aus dem Ding, während sich die Hautfarbe am
Hals meines Kollegen grau verfärbte. Kiemen klappten unter seinem Kinn auf, der
Mund verzerrte sich zu einem Fischmaul, mit seinen zu Flossen gewordenen Händen
hielt er den Hebel gedrückt. Im Zimmer stieg der Wasserspiegel. Ich kletterte
auf meinen Schreibtischsessel, rief meinen Bewußtseins-Engel, streckte die Arme
nach oben, schrie »ich will jetzt nach England!«, ließ mich mit
durchgestrecktem Körper voller Vertrauen einfach nach hinten fallen — und
landete in einem Couchsessel, direkt am Tresen meines Lieblingspubs in
Brighton. Heiter und gelöst bestellte ich ein Glas Bass Bitter, das im Traum
aber irgendwie seifig schmeckte.
    Von einer Nacht zur anderen
ließ mich mein schwarzer Engel im Stich. Ich hatte Träume, in denen ich den
Kopf immer wieder gegen eine Glaswand schlug und unentwegt Beschwörungsformeln
ausstieß, ach wäre es doch nur ein Traum, dann wäre alles gut, wenn es doch nur
ein Traum wäre, doch die Sätze verfehlten ihre Wirkung, denn tief im Innersten
meines träumenden Bewußtseins hatte ich nur eine Gewißheit: dies war die
Wirklichkeit, aus der es kein Erwachen gab. Schreckte ich dann doch hoch, hielt
mich das Bett noch lange umklammert; ich mißtraute dem Wachsein, und erst, als
der erste Schluck Kaffee meine Lippen verbrannte, war ich mir ganz sicher, daß
sich die Tasse nicht gleich wieder in einen Affenschädel oder einen abgehackten
Fuß verwandeln würde.

Fünfundzwanzig Mein Arbeitsalltag an der Universität war von all den Turbulenzen zunächst
nicht beeinträchtigt. Es lenkte mich sogar angenehm ab, einen Vortrag
vorzubereiten, in meinen Seminaren hausbackenen Referaten zu lauschen oder
erfrischend normalen Leuten Prüfungen abzunehmen. Die Welt von Martin und Anna,
Wordsworth und Coleridge war ein Teil meines Lebens, der trotz meiner
offiziellen Funktion als Doktorvater Martins die universitären Belange nicht zu
berühren schien, eine Art Paralleluniversum, wie Daniel sagen würde.
    Es dauerte Monate, bis ich das
veränderte Verhalten meiner Kollegen

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