Der Weg nach Xanadu
direkt dem Fenster gegenüberliegt, geschieht es selten, daß ich mich
rasiere, ohne mich zu schneiden. Irgendein Berggipfel taucht plötzlich aus dem
Nebel auf, oder ein Mast aus Sonnenlicht segelt über mein Gesicht, sodaß ich
täglich Blut und Seife opfere, als sehender Diener der Göttin Natur.
Während ich vergeblich
versuchte, meinen Blick der Landschaft zu entwinden, begannen die Verse des
vielleicht traurigsten aller von Coleridge verfaßten Gedichte in meinem Kopf zu
tönen, in einer überraschenden Klarheit, als hätte Mnemosyne selbst die
Wiedergabetaste eines unter meiner Schädeldecke versteckten Tonbandgeräts
gedrückt. »I see the old Moon, foretelling / The coming-on of Rain...« 6
Im selben Zimmer, in dem er
allmorgendlich mit dem Rasiermesser seine Blutopfer darbrachte (und, wie ich
hoffte, in jenem Zimmer, das durch meine Träume geisterte), schrieb Coleridge
1802. an Asra jene »Ode an die Niedergeschlagenheit«, deren erste Zeilen ich im
Dove Cottage in seiner Handschrift gesehen hatte.
Trotz aller Verstricktheit in
eine gescheiterte Ehe, der Demütigungen durch Wordsworth, der zunehmenden
Fesselung an Laudanum und der Blindheit in seinen Liebesentscheidungen gelingt
es ihm ein letztes Mal, mit seiner Stimme die Wände erzittern zu lassen, ein
Samson, zwischen die Säulen des Tempels gekettet, dem einmal noch seine alte
Kraft verliehen wurde und der nun an den Ketten zerrt, bis die Säulen fallen
und das Dach des Tempels alles unter sich begräbt.
Und wenn auch das Dach von
Greta Hall nicht einstürzte, so sollte es Coleridge in den kommenden Jahren
doch häufig vorkommen, er sei lebendig darunter begraben. Dejection. An Ode war jedenfalls das letzte Lebenszeichen des Dichters Samuel Taylor Coleridge,
der nun Platz machte für den Metaphysiker, Kritiker und Verseschmied gleichen
Namens.
Noch immer entließ mich die
Landschaft nicht aus ihrer sanften Umklammerung: hellgrün gleißende Kreise
bildeten die Grundrisse blitzartig in den Himmel schießender Lichtsäulen, an
der Oberfläche von Ullswater trieben Flotten von winzigen Perlmuttschiffen in
parallelen Formationen — und so beschloß ich, den Spuk zu beenden, indem ich
die Seele dieses Lichtwesens in meinen Zauberkasten sperrte. Ich kramte meine
Kamera aus dem Rucksack, riß sie hektisch hoch und drückte, während ich mit den
Händen einen waagrechten Kreis in der Luft beschrieb, zwanzigmal den Auslöser.
Acht Hätte mir vor der Lektüre von Dejection jemand von einem Gedicht
erzählt, das die Unfähigkeit des Autors, Gedichte zu schreiben, zum Thema habe,
so hätte ich nicht gerade mit unbezähmbarer Neugier reagiert. Was konnte mir
ein derartiger Text schon bieten? Entweder diese Unfähigkeit war tatsächlich
vorhanden, dann konnte das Schreiben darüber höchstens zu einem Ergebnis
führen, das den Leser zwischen Langeweile und Mitgefühl schwanken ließ —
wahrlich nicht die Gefühlszustände, die mir als Resultat einer Lesestunde
begrüßenswert erschienen. Oder das Gedicht war einfach gut, dann hätte mir die
Koketterie, das Nichtgelingen des Schreibens gelungen zu beschreiben, höchstens
kalte Bewunderung für die Form abgetrotzt.
Was Coleridges Ode davor
bewahrt, sich einem dieser Pole des Banalen zuzuneigen, ist die Tatsache, daß
sie eben nicht vom Verschwinden oder Verblassen gestalterischer Fähigkeiten spricht, sondern vom Abhandenkommen der Empfindungen. Nicht darüber, daß es
etwas nicht mehr kann, verzweifelt dieses Ich, sondern darüber, daß es
etwas nicht mehr fühlt.
Am 4. April 1802, kurz vor
Mitternacht, sitzt Coleridge an seinem Schreibtisch, vor sich und neben sich
die großen Fenster, betrachtet die Brechung des Mondlichts in seinem Brandyglas
und schreibt schließlich in einem Zug die erste Fassung der Ode, den Brief an
Asra, auf einen senkrecht linierten Block, der eigentlich für die
Haushaltsrechnungen seiner Frau gedacht war. Sechs Monate später, am Tag der
Hochzeit von William Wordsworth und Mary Hutchinson, erscheint die Endfassung —
von allzu privaten Gefiihlsausbrüchen gesäubert — in der Londoner Morning
Post.
»Den ganzen milden und heiteren
Abend lang«, schreibt Coleridge, »habe ich in den westlichen Himmel geschaut,
in seine seltsame Färbung, ein gelbes Grün: und immer noch schaue ich, doch
mein Blick ist leer.« Doch sein Blick ist auch genau, und er sieht die Flocken
und Streifen der Wolken, die ihre Bewegung an die Sterne weitergeben, jene
Sterne, die hinter oder
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