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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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zwischen ihnen dahingleiten.
    »Und jene Mondsichel, so fest,
als wüchse sie / aus ihrem eigenen wolkenlosen, sternenlosen See von Blau«:
     
    I see them all so excellently
fair,
    I see, not feel, how beautiful
they are!
     
    My genial spirits fail:
    And what can these avail
    To lift the smothering weight
from off my breast?
     
    Ich sehe sie alle, so herrlich
hell,
    Ich sehe — nicht fühle ich! —
wie schön sie sind!
     
    Meine schöpferischen Kräfte
versagen;
    Und was kann all dies helfen,
    Die erstickende Last von meiner
Brust zu nehmen?
     
    Diese vernichtende
Selbsteinschätzung überrascht auf den ersten Blick, stammt sie doch aus einer
Phase, in der Coleridge während seiner unermüdlichen Bergwanderungen — am 3.
April, dem Tag vor der Niederschrift, hatte er etwa binnen sechs Stunden den
Skiddaw und den Helvellyn bestiegen — seine Notizbücher mit ebenso
genauen wie überraschenden Naturbetrachtungen füllte.
    Aber das ist eben der
entscheidende Punkt: Naturbeschreibungen in Prosa zählten für ihn nicht,
mochten sie noch so originell sein, sie waren ihm unbeseelte Fingerübungen
eines zur höheren Form, der Lyrik, nicht mehr befähigten Zweiflers. Es genügte
ihm nicht, die Natur nachzuzeichnen oder abzuschreiben; erst wenn er sie wieder
fühlen konnte, würde er in der Lage sein, sie in Poesie zu verwandeln. Genau
dieser Anspruch vergrößerte auch die Distanz zu Wordsworth, der ungebrochen an
die alleinseligmachende Kraft der Natur glaubte — und sich damit begnügte, sie
sprachlich zu fotografieren. Coleridge hingegen wollte die Vision, nicht das
Abbild.
    Vor dem Wasserfall von Lodore
notierte sich Wordsworth jeden Stein, jeden abgebrochenen Ast, jeden Wirbel,
jedes vom Wasser mitgerissenene Stück Holz —
    Coleridge sah »riesige Massen
von Wasser, die im Zwielicht das Gefühl erweckten, als wären es Mengen von gewaltigen
weißen Bären, zu Tal stürzend, einer über dem anderen, die Felsen hinab — ihr
langes weißes Haar nach oben fliegend im Wind...«
    Aber selbst Bilder dieser Art
befriedigten ihn nicht. Sie waren für ihn nur Bruchstücke, Fragmente — einzelne
Lichtspuren, Meteoriten an einem ansonsten verfinsterten Himmel. »Der Dichter
in mir«, schreibt er an Godwin, »ist tot. Meine Einbildungskraft liegt wie ein
kalter Docht auf der Rundfassung eines metallischen Kerzenständers, sogar ohne
jeden Gestank von Petroleum, der daran erinnern könnte, daß er einst eine
Flamme nährte. Ich war einst ein Stück Blattgold, das von jedem Atemzug der
Phantasie hochgewirbelt wurde — aber ich habe mich zurückgeholt, an Gewicht und
Dichte gewonnen, und nun versinke ich in Quecksilber...«
    Die Selbstgerechtigkeit und
weihevolle Egomanie des sich gerne als oberster Beamter der Göttin Natur
gebärdenden Wordsworth dürfte einiges zu dieser Resignation beigetragen haben.
»Indem er mir zeigte«, schreibt Coleridge im selben Brief, »was wahre Dichtung
ist, zeigte er mir auch, daß ich selbst kein Dichter war.« So war denn auch die
Reaktion im Dove Cottage nach der ersten Lesung von Dejection nur
»kaltes Lob«.
    Und während die beiden Dichter
dreitausend Fuß über den Niederungen der Welt mit der Göttin rangen oder ihr
demütig dienten, schossen nur zweihundert Meilen südlich die Manufakturen aus
dem Boden, in denen die neue Klasse, das Proletariat, sechzehn Stunden am Tag
für einen Hungerlohn schuftete; wurden Kinder zur Arbeit geprügelt, die
ebensolang dauerte, bis sie zusammenbrachen. Der Industriemoloch Manchester war
Mutter Natur aus dem Schoß gekrochen, und ferne Echos seiner Freßgeräusche
mußten wohl bis ins nasse Idyll von Cumberland zu hören sein. Die fromme
Anbetung schöner Landschaften war obsolet geworden, und Coleridge hat das auch
gespürt. Wordsworth — der siebzehn Jahre später sich zu der Ungeheuerlichkeit
versteigen sollte, das Peterloo-Massaker öffentlich gutzuheißen, bei dem friedlich
demonstrierende Industriearbeiter von Regierungstruppen förmlich in Grund und
Boden gestampft wurden, elf Tote, vierhunderteinundzwanzig Schwerverletzte —
Wordsworth, der Fels, festgemauert in der Erden, wurde durch solche
Entwicklungen außerhalb seines Privatgartens nicht angekratzt, aber Coleridges
seismografische Konstitution mußte von den fernen Beben erschüttert worden
sein, wenn es auch bis 1802 keine eindeutigen Äußerungen von ihm dazu gibt.
Aber er blickte der Göttin Natur auf ihr schöngeschminktes Maul, und sie
schwieg.
    Ewig noch, schreibt Coleridge
in

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