Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
nicht laut sagen, wie hübsch und erwachsen mein Cabby ist? Ich werde das der ganzen Welt verkünden! Geh du noch ein paar Minuten spielen, während ich mich für die Kirche schön mache.«
»Kirche?«, dachte Tony. Seine letzte Pflegefamilie war religiös gewesen, und deshalb hatte er seitdem nie wieder einen Fuß in eine Kirche gesetzt. Er und Jake hatten still sitzen müssen, stundenlang, wie es ihnen schien, auf harten Holzbänken, die offenbar zu Folterzwecken ersonnen worden waren. Trotz der Unbequemlichkeit gelang es ihnen häufig einzuschlafen, eingelullt von der monotonen Stimme des Predigers. Er musste in sich hineinlächeln, als er sich erinnerte, wie er mit Jake eines Abends in der Kirche vorgetreten war und eine »Bekehrung« vorgetäuscht hatte, weil er sich ausgerechnet hatte, dass ihm das bei der Familie Pluspunkte einbringen würde. Das gelang auch. Anfangs zogen sie mit ihrer Bekehrung viel Aufmerksamkeit auf sich, doch bald zeigte sich, dass an jemanden, der »Jesus in sein Herz hereingelassen hat«, weit höhere Erwartungen geknüpft werden, was den Gehorsam und die peinliche Einhaltung von Geboten betrifft. Schon bald wurde Tony zum »Rückfälligen«, einer Kategorie, die, wie er herausfand, noch viel schlimmer war, als lediglich ein Heide zu sein. Das Überleben als Pflegekind war schwierig genug. Für ein in Ungnade gefallenes Pflegekind war es noch um ein Vielfaches schlimmer.
Maggie und Cabby freuten sich aber offensichtlich sehr auf die Kirche. Das machte Tony neugierig. Vielleicht hatten sich die Dinge ja während der vielen Jahre seiner Abstinenz geändert.
Maggie, drall und überaus ansehnlich, legte eine ordentliche Schicht Make-up auf, zog ein Kleid an, das sich elegant an ihre üppigen Formen schmiegte, und schlüpfte in hochhackige rote Schuhe, die perfekt zu ihrer Handtasche passten. Sie betrachtete sich prüfend im Spiegel, strich ein paar Falten glatt, zog ganz leicht den Bauch ein. Mit einem zufriedenen Nicken hängte sie sich ihren Mantel über den Arm und nahm Cabby bei der Hand.
Die Fahrt zum Parkplatz der großen Stadtkirche, bei der Maggie Gemeindemitglied war, dauerte nicht lange. In der Maranatha Holy Ghost Church fand ein Mittwochsgottesdienst mit anschließendem Jugendabend statt, sodass dort reges Treiben herrschte, eine bunte Mischung aus Jung und Alt, die Begeisterung und heilige Absicht miteinander teilten. Tony war beeindruckt, wie hier Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe zusammenkamen und die finanziell Abgesicherten Schulter an Schulter mit den weniger Gesegneten beteten. Die lockere, freundliche Art des Umgangs überraschte ihn ebenso wie der praktizierte Gemeinschaftssinn. Hier ging es anders zu als in der Kirche seiner Kindheitserinnerungen.
Auf dem Weg zu den Jugendräumen blieb Maggie immer wieder stehen und wechselte ein paar Worte mit diesem und jenem, wobei ihre sympathische Ausstrahlung sichtlich die Herzen erreichte. Als sie gerade in ein Gespräch vertieft war, flüsterte Cabby: »Too-ny?«
»Ich bin hier, Cabby. Was ist denn?«, fragte er.
»Guck!« Cabby zeigte auf ein junges Paar am anderen Ende des Raumes. Die beiden Teenager waren erkennbar heftig verliebt. Sie hatten nur Augen füreinander. Händchen haltend flüsterten sie sich harmlosen Unsinn zu. Ihr ganzes Universum drehte sich ausschließlich darum, einander nah zu sein. Tony lächelte in sich hinein. Es war sehr lange her, dass er unschuldige Liebe bewusst wahrgenommen und beobachtet hatte. Mit der Zeit hatte er sogar vergessen, dass sie überhaupt existierte.
Cabby wirkte plötzlich aufgeregt. Es fühlte sich an, als würde er Tony am Arm zupfen.
»Was hast du denn, Cabby? Bist du okay?«, fragte er.
»Freun-din«, nuschelte Cabby.
»Cabby«, antwortete Tony, der ahnte, worum es ging. »Das Mädchen? Sie gefällt dir?«
»Ja … nein.« Er schüttelte den Kopf. »Cabby will …«
Tony verstand. Er fühlte das rohe, leidenschaftliche Sehnen in Cabby und die einzelne heiße Träne, die sich in Cabbys Augenwinkel bildete und über seine Wange lief. Dieser junge Mann wusste irgendwie, dass es da eine Süße gab, die außerhalb seiner Reichweite und Möglichkeiten lag, und er teilte diese Sehnsucht Tony mit. Cabby würde niemals ein Geschenk erfahren können, das Tony einst mit kaltschnäuziger Geringschätzung behandelt hatte – die Liebe eines Mädchens. Für Cabby war das, was Tony mit Füßen getreten hatte, ein kostbarer Schatz. Wieder wurde ihm klar, wie
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