Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
sehr er die Reife dieses Sechzehnjährigen unterschätzt hatte. Tony fühlte sich peinlich berührt. Offenbar war er dabei, ein Gewissen zu entwickeln, und wusste nicht, ob er das wirklich wollte. War er nicht ohne Gewissen bisher immer gut zurechtgekommen? »Ich bin so ein Arsch«, dachte Tony.
»Es tut mir wirklich leid, Cabby«, flüsterte er ganz leise.
Cabby, der immer noch das junge Paar anschaute, nickte. »Komm noch«, flüsterte er zurück.
Maggie zupfte ihn am Ärmel, und sie gingen weiter. Tony war stumm und aufgewühlt. Sie kamen zu einem Unterrichtsraum, wo Maggie Cabby in die Teilnehmerliste eines Seminars eintrug. Zwei Jungen kicherten. Einer von ihnen sagte so laut, dass man es hören konnte: »Da kommt der Mongo!«
Cabby drehte sich zu den Jungen um. Durch Cabbys Augen sah Tony zwei schlaksige Zwölfjährige, die feixend auf ihn zeigten. Cabby gab sein Bestes, angemessen auf diese Beleidigung zu reagieren, hob die Hand, doch zeigte er ihnen den falschen Finger – den Zeigefinger. Offenbar erinnerte er sich nicht mehr genau, was ihm seine Schulkameraden beigebracht hatten.
»Falscher Finger, Cabby, nimm den mittleren«, empfahl Tony. Cabby schaute auf seine Hand und versuchte zu entscheiden, welcher Finger der mittlere war. Doch schnell gab er auf, hob beide Hände und streckte den Jungen alle Finger entgegen.
»Hah!«, lachte Tony. »Das ist es. Zeig ihnen alle Finger. Gut gemacht!«
Cabby grinste, freute sich spürbar über das Lob. Aber es machte ihn verlegen. Er hielt eine Hand hoch und winkte ab. »Nicht«, sagte er, denn es war ihm wohl peinlich.
»Oh, kümmer dich nicht um diese Jungs«, sagte Maggie aufmunternd. »Man hat ihnen keine Manieren beigebracht. Sie sind sogar zu unwissend, um zu wissen, wie unwissend sie sind! Na, ich habe dich in die Liste eingetragen, und in einer Stunde hole ich dich wieder ab. Viele deiner Freunde sind hier, und Miss Alisa. Du erinnerst dich doch an Miss Alisa, nicht wahr?«
Er nickte zustimmend und setzte dazu an, in den Raum hineinzugehen, doch dann, unerklärlicherweise, schaute er in die Ecke neben der Tür und flüsterte: »Tschüss, Too-ny!«
Das kam ganz unerwartet für Tony, und ehe er etwas sagen konnte, drehte Cabby sich wieder um und drückte Maggie fest an sich.
»Du meine Güte«, sagte sie. »Ist alles okay, Cabby?«
Er blickte zu ihr auf, nickte und schenkte ihr ein breites, von Herzen kommendes Lächeln.
»Gut!«, sagte Maggie. »Wenn du mich brauchst, wird mich jemand holen gehen, aber ich bin sowieso bald wieder da.«
»Okay!« Er wartete.
Wie Maggie es schon tausendmal gemacht hatte, beugte sie sich vor und ließ sich von Cabby auf die Stirn küssen. Diesmal spürte sie dabei, wie eine Art Brise durch ihren Körper fuhr. »Wow!«, dachte sie, »Heiliger Geist! Ich will mehr davon, bitte!« Nachdem sie Cabby noch einmal umarmt hatte, ging sie hinüber zum Gottesdienst.
Wieder einmal glitt Tony davon.
Er wusste sofort, was geschehen war, aber erst jetzt begriff er, was der Katalysator für den Sprung gewesen war: Der Kuss hatte es ihm ermöglicht, hinüberzugleiten. Es fühlte sich genauso an wie beim letzten Mal. Er schwebte mit dem Gesicht nach oben. Es war ein warmes, beruhigendes Gefühl, ein sanftes Getragenwerden, und dann sah er die Welt durch Maggies Augen. Anstelle des kindlichen Staunens und der einfachen Farben – leuchtend Rot, Grün und Blau – von Cabbys Seele trat eine ältere, bewusster ausgeformte Umgebung mit intensiven Strukturen und Mustern, der weite, komplexe Raum einer reifen Persönlichkeit.
Maggie, die nichts von dem Eindringling bemerkte, beschloss auf dem Weg zum Chorraum, einen Zwischenstopp in der Damentoilette einzulegen, um ihr Make-up zu überprüfen. Sie grüßte die anderen Frauen mit Hallo und Kopfnicken, dann blickte sie in den Spiegel, rückte ihr Kleid zurecht und wollte schon wieder hinausgehen, als sie entschied, doch besser noch kurz das Klo aufzusuchen. Man wusste nie genau, wie lange diese Gottesdienste dauerten, und wenn er erst einmal angefangen hatte, wollte sie nichts verpassen.
Tony geriet in Panik. Maggie wollte gerade die notwendige Entblößung vornehmen, als er »Stopp!« schrie. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.
Maggie Saunders wusste daraufhin genau, was zu tun war: Sie erstarrte, löste keine weiteren Knöpfe, verharrte für fünf Sekunden regungslos. Dann schrie sie aus vollem Hals: »Ein Mann! Hier ist ein Mann drin!«
Als hätte jemand eine
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